Die sächsische AfD nach Kalkar

Parteichef Jörg Meuthen wirbt für eine „seriöse Alternative“ – mit der sächsischen AfD unter Jörg Urban und Jan-Oliver Zwerg wird das nicht zu machen sein. Bislang hatten die beiden Flügel-Männer die Landespartei und die Landtagsfraktion fest im Griff. Doch inzwischen mehren sich Missgriffe und Kritik aus den eigenen Reihen.


Beitrag vom 04.12.2020, 19:40 Uhr │ Im Bild: Der seriöse Jan-Oliver Zwerg.


Nicht (mehr) alle akzeptieren Kalbitz

Kalkar war Chaos, zumindest zum Teil. Wer einen Eindruck gewinnen will, wofür die AfD steht und wo sie auseinanderläuft, konnte am vergangenen Wochenende beim Bundesparteitag in der nordrhein-westfälischen Stadt eine kompakte Neuaufführung der großen Konfliktlinien erleben. Bei fast jeder Frage wurde die „Einheit“ der Partei beschworen. Trotzdem war fast die Hälfte der Delegierten bereit, den eigenen Vorsitzenden Jörg Meuthen auf offener Bühne und vor laufenden Kameras zu demontieren.

Im Vergleich dazu erscheint die sächsische AfD wie ein Hort der Stabilität. Das liegt vor allem an der rigiden Führungsspitze: Nach dem Abgang Frauke Petrys vor drei Jahren übernahm Jörg Urban den Vorsitz der Landespartei und bewahrte sie vor den freigesetzten Fliehkräften und einer drohenden Austrittswelle. An seine Seite holte er sich damals Jan-Oliver Zwerg als Generalsekretär, der sich selbst einmal als die „rechte Hand“ bezeichnet hat. Die letzte Landtagswahl, bei der Rekordergebnisse eingefahren wurden, war das Werk dieses Flügel-Duos. Das weiß man in der Partei und dankt es beiden. Doch auch hier, in einem Kern- und Musterland der Partei, knirscht es immer öfter und lauter. Man muss nur genau hinhören.

Jüngster Zankapfel ist eine Veranstaltung der Landtagsfraktion, die am nächsten Dienstag stattfinden sollte, Thema: „politische Vereine“. Worum genau es gehen sollte, ist unklar. Eine öffentliche Ankündigung gab es nicht und wird es auch nicht mehr geben, denn das Treffen wurde abgesagt. Grund ist ein Politiker, der kein AfD-Mitglied mehr ist, aber beinahe zum Stargast geworden wäre: der Neonazi Andreas Kalbitz. Die brandenburgische Fraktion, der er immer noch angehört, hatte ihn empfohlen, Sachsens Fraktionschef Jörg Urban soll mit seinem Auftritt einverstanden gewesen sein. Doch „ein Teil der sächsischen Abgeordneten wollte ihn nicht als Gast akzeptieren“, berichtet die Freie Presse. Darüber soll „teilweise hitzig“ diskutiert worden sein, ohne dass sich ein Ergebnis abzeichnete.

Rückzieher bei Wahlbeschwerden

Die Skepsis ist nachvollziehbar. Zwar hatte sich die sächsische AfD unumwunden mit Kalbitz solidarisiert, als sich abzeichnete, dass er sein Parteibuch verlieren könnte. Doch seitdem ihn der Bundesvorstand fallen ließ und seine Mitgliedschaft annullierte, weil er über seine Vergangenheit in der rechten Szene gelogen hat, sichert das Kokettieren mit diesem Mann immer weniger die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit – und immer stärker die der Sicherheitsbehörden. Bei zwei AfD-Kundgebungen trat Kalbitz in diesem Sommer im Freistaat auf, für eine dritte war er angekündigt. Sämtliche Gastspiele wurden dem völkisch-nationalistischen Flügel zugeschlagen und beim Verfassungsschutz entsprechend registriert, Rubrik „Rechtsextremismus“.

Erst vor kurzem spaltete eine andere Frage die rechten Abgeordneten. Nachdem mehrere AfD-Beschwerden gegen das Ergebnis der Landtagswahl 2019 abgewiesen worden sind, wäre der Weg zum Leipziger Verfassungsgerichtshof frei gewesen. Genau das hatten Urban und Zwerg immer wieder angekündigt. Doch sowohl bei der Fraktion, als auch in der Landespartei überwogen plötzlich Vorbehalte. Wäre man erfolgreich, so die Befürchtung, stünden Neuwahlen an, die man zwar eigentlich wollte. Doch daraus würde die Partei nicht unbedingt gestärkt hervorgehen. Viele Fraktionsmitglieder sahen ihre eigenen Mandate in Gefahr.

Der überraschende Rückzieher konterkariert die Bemühungen, einen angeblichen Komplott nachzuweisen, der es nach sich zog, dass die Partei bei der Wahl nur mit einem Teil ihrer Landesliste antreten durfte. Ein eigener Untersuchungsausschuss widmet sich dem Thema, doch mit dem Gremium geht es nicht voran. Monatelang verzögerte die AfD den Beginn der Beweisaufnahme, benannte erst keine Zeug*innen, verklagte dann den Ausschussvorsitzenden. Vor zwei Wochen hätten Befragungen stattfinden können, doch der lange vereinbarte Termin ist geplatzt.

Isolation im Parlament

Genau zu der Zeit, als sich der Untersuchungsausschuss treffen sollte, fand eine Sondersitzung des Landtags statt, beantragt durch die AfD. Mit diesem Manöver wollte die Fraktion eine Abstimmung über die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes erzwingen und die Landesregierung dazu bewegen, im Bundesrat ein Veto einzulegen. Problem dabei: Das Gesetz hatte schon einen Tag zuvor Bundestag und Bundesrat passiert, war damit nicht mehr zu verhindern. Ohnehin wäre so ein Landtagsbeschluss, wenn er eine Mehrheit gefunden hätte und nicht zu spät gekommen wäre, verfassungswidrig.

Um die verpatzte Sondersitzung doch noch abzurunden, wurde sie zur Werbung genutzt, doch das zog zusätzlichen Ärger nach sich. Direkt im Anschluss stellten sich fast alle AfD-Abgeordneten im Innenhof des Landtags für ein Gruppenfoto auf, in den Händen hielten sie Schilder mit der Aufschrift „Grundgesetz“ und einem stilisierten Trauerflor. Weil dabei weder Masken getragen noch Abstände eingehalten wurden, schrieb Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU) einen strengen Brief an Urban – und verschärft aus diesem Anlass die Maskenpflicht im Parlament.

Mit einem eher ungelenken Vorgehen fällt die Fraktion seit Monaten auf und in ihrem eigenen Spektrum völlig aus dem Rahmen. Während die AfD in Thüringen mit der Kemmerich-Affäre unrühmliche Geschichte schreiben konnte und derzeit in Sachsen-Anhalt eine Regierungskrise befeuert, droht in Sachsen, wo die Partei mehr Abgeordnete hat als in allen anderen Landesparlamenten, die Isolation.

Frust wegen Zwerg

Das liegt nicht nur am Verhalten bei Sitzungen, sondern beginnt schon bei der Vorbereitung. Den Ablauf plant das Präsidium, für die AfD spielt dabei Jan-Oliver Zwerg als parlamentarischer Geschäftsführer die erste Geige. Doch die Begegnungen mit ihm schildern Abgeordnete anderer Fraktionen nicht in freundlichen Worten. Dass er häufig unvorbereitet komme, ist da zu hören, er sich mit der Geschäftsordnung nicht besonders gut auskenne und zu Kompromissen nicht bereit sei. Absprachen mit der AfD gelten daher als wenig belastbar, falls sie überhaupt zustande gekommen. So waren im Vorfeld mehrerer Plenarsitzungen in diesem Jahr fast alle Fraktionen bereit, eigene Initiativen zurückzustellen, um die Sitzungen kurz zu halten und damit Infektionsrisiken zu begrenzen. Nur die AfD sah das nicht ein.

Inzwischen wächst der Unmut in den eigenen Reihen, und er richtet sich frontal gegen Zwerg. Nach Angaben der Freien Presse soll „ein Drittel, vielleicht sogar die Hälfte der Parlamentarier“ mit seiner Arbeit unzufrieden sein, unter anderem mangele es ihm an einer Strategie für die parlamentarische Arbeit. „Der Frust ist so groß, dass ein Teil der Abgeordneten über Zwergs Sturz nachdenkt“, heißt es weiter. Erstmals seit langem sind solche Misstöne zu hören, die sich ausweiten könnten zu einem Riss in der bislang unhinterfragten Führungsriege.

Kurz nach dem Wiedereinzug in den Landtag war Jörg Urban fast einhellig zum Fraktionsvorsitzenden gewählt worden. Als parlamentarischen Geschäftsführer schlug er Zwerg vor, die Spitze der Fraktion ist seither identisch mit der Spitze der Landespartei. Zwerg hatte nur vier Stimmen und keine anderen Kandidierenden gegen sich. „Wir sind auf jeden Fall dialogbereit“, er strebe eine ordentliche Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen an, erklärte er danach. Damals verfügte Zwerg noch über keinerlei parlamentarische Erfahrung. Inzwischen hat er sie reichlich gesammelt, allerdings nicht mit den gewünschten Resultaten.

Kalkar ein „Erfolg für Sachsen“?

Schon Anfang des Jahres hatte Zwerg eine erste Niederlage einstecken müssen. Damals war er gemeinsam mit Urban an der Landesspitze bestätigt worden, niemand wollte es mit ihnen aufnehmen. Doch in der Gunst der Basis ist der Generalsekretär abgestiegen. Er erhielt rund 74 Prozent der Stimmen, ein stabiles Polster, doch mehr als zehn Punkte weniger als noch Anfang 2018, als er ins Amt gekommen war. Damals charakterisierte man ihn gern als einen Mann direkter Worte, der laut und nur in Hauptsätzen spricht. Später kam die böse Vermutung hinzu, dass er womöglich mit autoritären Gesten überspielt, auch ohne Nebensätze zu denken.

Nicht nur im parlamentarischen Bereich sind hinter dem Gespann Urban und Zwerg einige Fragezeichen aufgezogen. Auch im Parteileben gibt es inzwischen Erschütterungen. Im Kleinen zeigt sich das darin, dass mehrere Kreisverbände Probleme bereiten, nach dem Vogtlandkreis und Zwickau steht neuerdings auch Mittelsachsen auf der Liste. Im Großen zeigte sich nun in Kalkar, dass noch einiges mehr im Argen liegt. Nach dem Bundesparteitag sprach Urban zwar von einem „Erfolg für Sachsen“ und verwies darauf, dass der Landtagsabgeordnete Carsten Hütter zum Bundesschatzmeister der Partei und der Kollege Christopher Hahn ins Bundesschiedsgericht gewählt wurden. Doch Hahn gehört zu denen, die sich nicht damit anfreunden wollen, dass Andreas Kalbitz bei einer Fraktionsveranstaltung aufkreuzt.

Hütter wiederum hat in der Landespartei seit langem keine Funktion mehr. Man sieht ihn in tonangebenden Flügel-Kreisen eher an der Seite des ungeliebten Meuthen und hält ihm vor, unter der geschassten Frauke Petry in der AfD aufgestiegen zu sein. Ein anderer Sachse machte ihm das am Samstag vor größtmöglicher Runde zum Vorwurf: Der Bundestagsabgeordnete Siegbert Droese, zugleich stellvertretender Landeschef, meldete sich zu Wort und wollte wissen, warum sächsische Kreisverbände derzeit Rechnungen begleichen müssen, die bis ins Jahr 2017 zurückreichen. In die Zeit, in der Hütter noch Landesfinanzchef unter Petry war.

Urban will „Querdenker“ als Partner

Das Placet der sächsischen AfD-Spitze für eine Kandidatur in Kalkar hatten vorher weder Hahn noch Hütter, sondern vielmehr der Europaabgeordnete Maximilian Krah. Er wollte als Beisitzer in den Bundesvorstand einziehen und dort genau den Platz einnehmen, den vorher Andreas Kalbitz besetzt hatte. Doch mit 44,5 Prozent gingen bei der entscheidenden Abstimmung nicht genügend Stimmen auf Krahs Konto. So erging es am Wochenende reihum allen Kandidierenden, die vom rechten Rand der Partei kommen.

In Kalkar ging es aber nicht nur ums Personal, bei dem das Meuthen-Lager immer noch knapp die Oberhand hat, sondern um die grundsätzliche Ausrichtung der Partei. Statt sich „immer derber, immer enthemmter“ zu präsentieren, so mahnte der Parteivorsitzende in einer Brandrede, müsse sich die AfD mäßigen. Solche Worte genügen schon, um hunderte Mitglieder in Rage zu versetzen. Die Warnung, dass sich in der „Querdenken“-Bewegung „nicht ganz wenige Zeitgenossen“ engagieren, deren „zum Teil auch offen systemfeindliche Positionen und Ansichten den Verdacht nahelegen, dass bei ihnen tragischerweise noch nicht einmal das Geradeausdenken richtig funktioniert“, ließ die Stimmung vollends kippen. Unter denen, die Meuthen dafür mit harten Vorwürfen überzogen, war Jörg Urban.

Was der Vorsitzende da vorgetragen hat, das eine die Partei nicht, sondern „spaltet sie noch weiter“, sagte Urban am Saalmikrofon, um dann ein kurzes, aber entschlossenes Plädoyer für die „Querdenker“ aufzusagen: Diese Bewegung müsse „selbstverständlich unser Partner auf der Straße sein“, das seien „die mutigsten Menschen in diesem Land“. Vorbehalte ließ er nicht erkennen, auch nicht im Nachgang. „Es ist wichtig, dass wir bei Demonstrationen nahe an den Menschen sind“, erklärte er der Leipziger Volkszeitung. „Dort werden Forderungen an die Politik formuliert. Im besten Fall tragen wir solche Forderungen ins Parlament“. Beim Corona-Thema falle der AfD „die Kritik am Regierungshandeln sozusagen in den Schoß“ – einfach weil andere sie nicht üben.

Suche nach einem Gewinner-Thema

Urbans Sicht teilen viele, die in der Pandemie das große Momentum suchen, das lange gesuchte Thema, das durch das kommende Superwahljahr trägt. In der Problembeschreibung ist man sich sogar weitgehend einig in der AfD: Vor der letzten Bundestagswahl war die Anti-Asyl-Mobilisierung das entscheidende Vehikel, das sich vor allem im Osten in starke Ergebnisse ummünzen ließ. Schon länger und immer händeringender wird nun ein neues, zugkräftiges Kampagnenthema gesucht.

Auch die sächsischen AfD ließ dabei nichts aus, von Zweifeln am menschengemachten Klimawandel über Vorbehalte gegen die Nutzung von Windkraft oder 5G-Handynetzen bis zu sogenannter Impfkritik, zudem Diskussionen um die Verbannung von Dieselfahrzeugen aus Innenstädten oder Sonntagsfahrverbote für Motorräder. Selbst an Proteste von Landwirt*innen gegen Düngeverordnungen dockt man an, manches davon taucht auch im Landtag wieder auf. Doch kaum etwas aus diesem Sammelsurium zündet. Vor allem addiert es sich ganz offensichtlich nicht zu einem großen Block, der in den Markenkern der Partei eingehen und ähnlich bedeutend, gar wahlentscheidend sein könnte, wie es die Agitation gegen Migrant*innen war.

Statt aufzuspringen auf den neuesten Zug und Gefahr zu laufen, in Mithaftung für Ausschreitungen genommen zu werden, müsse die Partei eher daran arbeiten, sich als „seriöse Alternative“ aufzustellen, meint Meuthen. Zwei Gedanken tragen offenbar seine Sicht. Erstens: „Nahe an den Menschen“ zu sein, wie Urban es formuliert, heißt nicht automatisch, besonders viele Menschen anzusprechen. Beim den Leugner*innen der Pandemie und den Gegner*innen ihrer Eindämmung handelt es sich eher um eine lautstarke, zudem radikale, teils gewalttätige Minderheit. Und sich mit ihr um jeden Preis gemein zu machen, das ist der zweite Punkt, verstärkt die Gefahr, als Gesamtpartei bald unter Beobachtung des Verfassungsschutzes zu geraten.

„Wie ein Sack Reis“

Für die Flügel-Kräfte ist diese Rücksichtnahme ein Zeichen von Unterwerfung, einer bereitwilligen Angleichung an die „Altparteien“. Und wie sähe sie eigentlich aus, eine „seriöse Alternative“? Der Berliner Kommunalpolitiker Clemens Torno, der vor wenigen Tagen aus der AfD ausgetreten ist, schildert im Gespräch mit dem Deutschlandfunk einige Episoden aus dem Innenleben der Partei, unter anderem vom Neujahrsempfang der brandenburgischen AfD-Fraktion, 2016 war das.

Er stieß damals auf einen Björn Höcke, der von „Entartung“ sprach. Und er habe auch Jörg Urban getroffen, schildert Torno, wie er „angetrunken dann Herrn Freisler imitierte, indem er sagte ‚Sie schäbiger Lump‘ und dann sich da wieder in seinen Stuhl fallen ließ wie ein Sack Reis.“ Gemeint ist Karl Roland Freisler, der Präsident des NS-Volksgerichtshofs, Hitlers oberster Richter und Henker. Die Worte vom „schäbigen Lump“ galten Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, einem der Widerständler des 20. Juli.

Freisler verurteilte ihn zum Tode, am 8. September 1944 wurde er hingerichtet, ermordet. Für die „seriöse“ AfD ist das ein Witz im Suff.