Es ist ein Coup von rechtsaußen und ein Tabubruch ohne Beispiel in der Geschichte der Bundesrepublik. Mithilfe der AfD und der CDU hat sich gestern der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum neuen thüringischen Ministerpräsidenten wählen lassen. Der bislang undenkbare Fall erschüttert das Land. Wie reagiert die sächsische Politik? Ein Stimmungsbild am Tag danach.
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Das Beben von Erfurt ist auch in Dresden zu spüren. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer warf der thüringischen CDU vor, sie habe nicht akzeptiert, dass sie die Landtagswahl verloren hat. Es dürfe keine Zusammenarbeit mit AfD geben. „Man kann nur sagen, die Zauberlehrlinge werden jetzt die Geister nicht mehr los, die sie gerufen haben“, sagte er heute früh im ARD-Morgenmagazin. Es sei ihm unverständlich, warum eine Einigung unter den demokratischen Kräften nicht möglich war.
Allerdings lehnte die thüringische CDU eine Zusammenarbeit mit der Linken ab, eine Position, auf die auch die sächsische Union pocht. So, wie es gekommen ist, dürfe es aber nicht weitergehen, fuhr Kretschmer fort. Er hoffe nun, dass es „in einem geordneten Prozess zu Neuwahlen kommt“.
Befremden im Landtag, Glückwünsche von der FDP
Auch die sächsischen Koalitionspartner finden deutliche Worte. SPD-Chef Martin Dulig sagte, Union und FDP hätten „ihre Seele verkauft, um an die Macht zu kommen“. Der Fall zeige, dass der Abgrenzungskurs der CDU nicht funktioniert: „Es gibt nicht nur in der Thüringer CDU und FDP viele, die direkt und indirekt mit der AfD zusammenarbeiten wollen oder dies auf kommunaler Ebene schon tun.“ Der Grünen-Innenpolitiker Valentin Lippmann bezeichnete Kemmerich gar als einen „Totengräber der liberalen Demokratie“.
Die demokratische Opposition im Sächsischen Landtag reagiert ebenfalls scharf, Linken-Fraktionschef Rico Gebardt sprach von einem „historischen Tabubruch, für den CDU und FDP politisch geradestehen müssen“. Von der sächsischen Regierung erwarte er ein klares Zeichen – mit einem Kabinett von Gnaden der AfD dürfe sie nicht zusammenarbeiten.
Anders äußern sich die Liberalen, die in Sachsen nicht mehr im Landtag sitzen. Der FDP-Landesvorsitzende Frank Müller-Rosentritt beglückwünschte seinen Parteifreund zur Wahl. Er appellierte an die thüringischen Abgeordneten von CDU, SPD und Grünen, „sich in den kommenden Tagen Gesprächen mit Ministerpräsident Kemmerich nicht zu verschließen.“ Zuerst hatte die Dresdner FDP auf Twitter reagiert und Kemmerich für die „Mammutaufgabe“, vor der er steht, „viel Erfolg“ gewünscht.
Sündenfall in Erfurt
Thomas Kemmerich war gestern überraschend durch eine knappe Mehrheit der Abgeordneten im Erfurter Landtag zum neuen thüringischen Ministerpräsidenten gewählt worden. Für ihn stimmten im entscheidenden dritten Wahlgang 45 Abgeordnete, für den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow 44, es gab eine Enthaltung. Die Abstimmung erfolgte in geheimer Wahl, es gilt aber als sicher, dass neben den meisten CDÚ-Parlamentarier*innen die AfD-Fraktion um Björn Höcke geschlossen für Kemmerich stimmte – und nicht für den eigenen Kandidaten Christoph Kindervater, der nur ein Strohmann war.
Schon vor der Abstimmung war klar, dass Kemmerich nur mithilfe der AfD gewinnen kann. Der Sieger nahm die Wahl an, ließ sich von Höcke persönlich gratulieren. Im Anschluss führten FDP, CDU und AfD einen ersten gemeinsamen Beschluss herbei und vertagten die Landtagssitzung. Ein Kabinett hat der neue Ministerpräsident noch nicht aufgestellt, Rücktrittsforderungen jedoch ausgeschlagen. In mehreren Interviews betonte er, dessen Partei zur Landtagswahl im vergangenen Herbst lediglich fünf Prozent der Stimmen erzielt hat und nur fünf Abgeordnete stellt, einen Regierungsauftrag erhalten zu haben. Dem müsse und wolle er nachkommen.
Dieser Auftrag stammt nicht von den Wähler*innen, sondern stützt sich maßgeblich auf das Votum der AfD. Noch gestern Nachmittag kündigte Kemmerich an, er werde die AfD nicht aktiv einbinden und auch keine Politik in deren Sinne, sondern für die „bürgerliche Mitte“ betreiben. Das hatte er schon früher versichert. Allerdings wird seine Minderheitsregierung durchgängig von der Zustimmung der AfD abhängig sein. Bereits kurz nach der Landtagswahl hatte Höcke dies in einem Schreiben an Kemmerich offiziell angeboten, um den Fortbestand des Mitte-Links-Bündnisses unter Ramelow zu verhindern. Genau so ist es jetzt gekommen.
Freude bei der sächsischen AfD
Davon erwartungsgemäß begeistert ist die sächsische AfD. Der Landes- und Fraktionsvorsitzende Jörg Urban sagte dem MDR, seiner Partei sei es gelungen, einer rot-rot-grünen Koalition „einen Strich durch die Rechnung zu machen“. Das Ergebnis sei zwar für die sächsische AfD „überraschend“ gewesen. Es beweise aber, dass man aus der Opposition heraus Politik gestalten kann. Er sehe daher auch in Sachsen „die Chance auf eine bürgerliche Mehrheit“ unter Beteiligung der AfD, sofern die hiesige CDU mitzieht.
Dafür gibt es aktuell keine Anzeichen. Eine Ausnahme ist die nationalkonservative WerteUnion, die sich dafür einsetzt, die CDU für eine Zusammenarbeit mit der AfD zu öffnen. Landessprecher Ulrich Link sagte, er freue sich über das Erfurter Ergebnis. Bei Facebook hieß es zudem, dass Thüringen „Glück“ gehabt habe. Wäre die sächsische Union vorgegangen wie im Nachbarbundesland, wäre „uns das unsägliche Kenia erspart geblieben“, heißt es im Hinblick auf das schwarz-rot-grüne Bündnis in Sachsen.
Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt schlägt in die gleiche Kerbe und rechtfertigt eine von der AfD abhängige Minderheitsregierung in einem Textbeitrag. Kemmerich rät er darin, „mit den Abgeordneten aller Fraktionen so redlich zusammenzuarbeiten, dass eine unserem Gemeinwohl dienliche Politik zustande kommt.“ Patzelt hatte in der Vergangenheit sowohl die sächsische AfD, als auch die sächsische CDU beraten.
Auswirkungen auf die Leipziger Wahl
Noch offen ist, wie stark die aktuellen Ereignisse auf den laufenden Oberbürgermeister*innen-Wahlkampf in Leipzig abfärben werden. Aus dem ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag ist der CDU-Herausforderer Sebastian Gemkow knapp vor dem SPD-Amtsinhaber Burkhard Jung hervorgegangen. Der AfD-Kandidat Christoph Neumann hat mit lediglich 8,7 Prozent der Stimmen unerwartet schlecht abgeschnitten (idas berichtete). Im zweiten Wahlgang hätte er keine Chance, selbst an die Rathausspitze zu kommen. Aber die AfD könnte jetzt darauf setzen, ihre Rolle als „Königsmacher“ herauszukehren und zu demonstrieren, dass sie über Macht verfügt, ohne an einer Regierung beteiligt zu sein.
Für Leipzig hieße das, auf einen erneuten Antritt zu verzichten und den CDU-Bewerber zu unterstützen. Heute Abend will die Leipziger AfD bei einem Kreisparteitag entscheiden, ob Neumann nochmals in Rennen geht. Der Bundestagsabgeordnete Siegbert Droese, der die Leipziger AfD anführt und mit Neumann befreundet ist, sagte in dem Zusammenhang, dass es möglich sei, einen Kandidaten aus dem Amt zu drängen, „wenn das bürgerliche Lager geschlossen auftritt.“ Gemkow will auf solche Avancen nicht eingehen und erklärte, dass für ihn eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht infrage komme. Die Entwicklung in Thüringen betrachte er vielmehr „mit großer Sorge“.
Die Leipziger Parteivorsitzenden von SPD, Linken und Grünen riefen unterdessen gemeinsam dazu auf, den demokratischen Konsens unbedingt zu wahren: Wer mit der AfD paktiert, habe „die gesellschaftliche Mitte verlassen“. Das war gestern auch der vorherrschende Ton auf der Straße. In Leipzig trafen sich am frühen Abend rund anderthalbtausend Menschen vor dem Neuen Rathaus und zogen mit einer Spontandemonstration durch die Innenstadt. Auch in der Landeshauptstadt Dresden regte sich Protest, mehr als 100 Menschen versammelten sich vor der sächsischen FDP-Zentrale. In Zwickau gab es Kundgebungen vor den örtlichen Büros von FDP und CDU.