Gauland bittet um Entschuldigung, Hilse um Mitleid

Nach Störaktionen im Bundestag werden Konsequenzen gezogen: Hausverbote für Gäste der AfD, möglicherweise sogar Ermittlungsverfahren gegen Abgeordnete. Alexander Gauland bittet um „Pardon“ und bestreitet, dass seine Fraktion eine Eskalation wollte – doch das gilt als wenig glaubhaft. Verheerender als die Außenwirkung ist nur noch, dem Verfassungsschutz neues Gratis-Material geliefert haben.


Beitrag vom 22.11.2020, 19:00 Uhr │ Im Bild: Alexander Gauland.


„Aus dem Ruder gelaufen“

Über Demut und andere Werte, die er für konservativ hält, hat Alexander Gauland viel gesprochen und geschrieben, bevor er wurde, was er ist. Als Mitgründer und Ehrenvorsitzender der AfD, als deren oberster Abgeordneter verkörpert er heute das kraftstrotzende Selbstbewusstsein der Partei, die zu Selbstkritik nicht neigt. Seltenheitswert hatte daher ein Wort des Parteipatriarchen am Freitagvormittag im Bundestag: „Pardon!“ Er nannte es „unzivilisiert“, dass Parlamentsmitglieder „von Gästen zweier Abgeordneter unserer Fraktion bedrängt und belästigt wurden“. Am Mittwoch war das geschehen, als der Bundestag über die Novelle des Infektionsschutzgesetzes stritt, während tausende Leugner*innen der Pandemie und Gegner*innen ihrer Eindämmung demonstrierten, teils mit Gewalt. „Hier ist etwas, wie man sagt, aus dem Ruder gelaufen, und die aufgeheizte Stimmung draußen hat sich nach innen übertragen“, bemerkte Gauland. „Dafür entschuldige ich mich als Fraktionsvorsitzender.“ Er hätte es an diesem Punkt belassen und der Aktuellen Stunde, beantragt durch Union und SPD, die Schärfe nehmen können.

Doch mit allem, was geschah, habe man nicht rechnen können, setzte er hinzu, als habe die AfD das keinesfalls gewollt. Eine „Heuchelei“ sei es außerdem, dass über frühere Protest- und Störaktionen im Bundestag die Empörung geringer war, als sei das, was die AfD-Gäste angerichtet haben, beinahe die Norm. Und die „weit übelste Attacke“, so lautete die dritte Relativierung, habe sich doch außerhalb abgespielt: „Ich rede von unserem Kollegen Karsten Hilse“, von dem sächsischen Abgeordneten, der kurzzeitig Handschellen trug. Hilse trat wenig später selbst ans Rednerpult und erklärte sich zum „Opfer von völlig unverhältnismäßigem Handeln“. Auf den Asphalt habe ihn die Polizei geworfen, und das bloß wegen einer „vermeintlichen Ordnungswidrigkeit“. In Wirklichkeit stehen Straftaten im Raum. Gegen den Polizisten Hilse wird wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt und wegen der mutmaßlichen Fälschung von Gesundheitszeugnissen. Er hatte am Mittwochvormittag Unter den Linden keine Maske getragen, sondern ein dubioses „Attest“ vorgezeigt. Weil er sich einer anschließenden Personalienkontrolle widersetzte und entreißen wollte, wurde er vorübergehend festgenommen.

Die zarten Ansätze von Selbstkritik, die man bei Gauland heraushören konnte, kassierte Hilse wieder ein. Der 18. November werde „in die Geschichte eingehen“, jubilierte er vor dem versammelten Plenum, „weil es noch nie in der deutschen Geschichte einen solch breiten Widerstand von Menschen verschiedener politischer Grundüberzeugungen gegen ein Gesetz gab“. Dieses wiederum könne man „mit Fug und Recht“ als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnen. Ein üblicher Begriff sei das gewesen, bevor es durch die Nationalsozialisten eine „negative Konnotation“ erhalten habe, meint Hilse. Sinn ergibt sein Plädoyer für besonders verwegene historische Vergleiche nicht. Denn die Bezeichnung wurde in den vergangenen Tagen nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer einschlägigen Konnotation gebraucht. Die Demonstrierenden in Berlin und beispielsweise auch die Dresdner „Querdenken“-Initiative, deren T-Shirt Hilse kürzlich im Plenarsaal trug, stellen den verharmlosenden Bezug zum Nationalsozialismus ausdrücklich her und unübersehbar in den Vordergrund.

AfD wusste, wen sie einlädt

Darüber diskutieren wollte der Abgeordnete offenbar nicht, nachdem er gesprochen hatte, verließ er der Raum. Dort wurde deutlich und einmütig wie nie eine Trennlinie gezogen: „Die aktuellen Aktionen aus den Reihen und dem Umfeld der AfD sind keine Lappalien. Das ist ein Bruch mit unserer parlamentarischen Kultur“, sagte Michael Grosse-Brömer, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion. Von einer „offiziellen Austrittserklärung der AfD aus dem parlamentarischen Diskurs“ sprach sein Kollege Stefan Müller, Patrick Schnieder von einer „orchestrierten Aktion“. Dirk Wiese, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender, sagte offen, dass er Gauland die Rechtfertigung nicht abnehme, zu sehr passe das Erlebte „in das System, wie die AfD hier im Deutschen Bundestag auftritt.“ Barbara Hendricks berichtete von einer ganzen Reihe von Fällen subtiler Beleidigungen und Bedrohungen. Die seien oft zu leise, um ins Protokoll zu gelangen, doch stets deutlich genug, um wahr- und ernstgenommen zu werden.

„Sie wollen die Institutionen in den Schmutz ziehen, weil Sie sie hassen“, folgerte Marco Buschmann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion. Damit, ein „Klima der Bedrohung“ zu schaffen, habe die AfD eine neue Eskalationsstufe betreten. Die physische Konfrontation, erinnerte die Linken-Politikerin Petra Pau, die zugleich Vizepräsidentin des Bundestags ist, habe klare historische Vorbilder, „und das ist erhellend und verheerend“. Nur ein „unaufrichtiges und geheucheltes Bedauern“ habe man demgegenüber vernommen, fügte Britta Haßelmann an, die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen: „Die Abgeordneten der AfD wussten ganz genau, wen sie einladen. Und sie wussten auch ganz genau, was die Absicht dieser Personen ist; denn diese Personen waren nicht zum ersten Mal eingeladen.“

Es geht um eine Reihe von Personen, die am Mittwoch mit der Hilfe von AfD-Abgeordneten ins Gebäude gelangt waren, die dort Parlamentsmitglieder, Minister*innen und Mitarbeiter*innen bedrängten, teils beleidigten und zudem versuchten, in Büros einzudringen. Der AfD-Mann Udo Hemmelgarn hatte die Youtuber Thorsten Schulte („Silberjunge“) und Ilja Tabere („Elijah Tee“) eingeladen, Petr Bystron hatte Rebecca Sommer geholt, Hansjörg Müller zudem Daniele Scheible. Weitere AfD-nahe Aktivist*innen waren im Bundestag, etwa Angelika Barbe, die im Kuratorium der Desiderius-Erasmus-Stiftung sitzt, sowie der „Querdenker“ David Claudio Siber. Nur einige der Gäste hatten, wie es vorgeschrieben ist, eine Fraktionsbegleitung, mehrere von ihnen wurden letztlich durch die Bundestagspolizei gestoppt. Offenbar wurden AfD-Abgeordnete auch selbst aktiv. So ließ sich Johannes Huber filmen, wie er versuchte, mehrere SPD- und CDU-Räume zu betreten, um dort „Petitionen“ gegen die Corona-Maßnahmen abzuladen. Weitere Abgeordnete assistierten draußen, brachten „Querdenken“-Sympathisant*innen hinter Polizeiabsperrungen. Auf diese Weise war etwa Karsten Hilse dem Erdoğan-Propagandisten Martin Lejeune behilflich.

Druck ist längst nicht abgebaut

Am Tag danach waren die Schlagzeilen schlecht und der Ärger groß. In einer Fraktionsbesprechung soll Gauland wütend gewesen sein und mehreren seiner Abgeordneten vorgeworfen haben, dass sie „alles kaputt gemacht“ hätten, berichtet das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Wenig später erklärte er gemeinsam mit Alice Weidel, dass man das „inakzeptable Verhalten“ bedauere. Man habe aber keineswegs „Gäste mit dem Ziel in den Bundestag eingeladen, den parlamentarischen Ablauf zu stören oder Abgeordnete an der Ausübung ihres Mandates zu behindern“. Fraktionsvize Tino Chrupalla distanzierte sich ebenfalls „ganz klar von diesen Bildern. Wir werden das aufarbeiten, wir werden das thematisieren in den nächsten Tagen im Fraktionsvorstand, aber auch in der Fraktion.“ Am Freitagmorgen, vor der Aktuellen Stunde, folgte eine Sondersitzung der AfD-Fraktion. Ergebnis: Zumindest Petr Bystron und Udo Hemmelgarn werden sich schriftlich bei Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) entschuldigen. Mehrere der Gäste, „die aufgefallen sind“, erhalten zudem ein Hausverbot für Fraktionsveranstaltungen.

Der Ältestenrat des Bundestags, der sich am Donnerstag beriet, erwägt ebenfalls Hausverbote, dort setzt man zudem auf strafrechtliche Konsequenzen – auch für Abgeordnete, die sich einer Beihilfe schuldig gemacht haben könnten. In einem Schreiben an sämtliche Bundestagsmitglieder betonte Schäuble, er habe die Verwaltung aufgefordert, „alle rechtlichen Möglichkeiten zu prüfen, gegen die Täter und diejenigen vorzugehen, die ihnen Zugang zu den Liegenschaften des Bundestages verschafft haben“. Der Druck ist dadurch und auch nach der Debatte am Freitag längst nicht abgebaut. So sieht der thüringische Innenminister Georg Maier (SPD), derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz, nun den Verfassungsschutz in der Pflicht, Schlüsse aus den Vorfällen zu ziehen. „Die gesamte Partei entwickelt sich in eine rechtsextremistische Richtung“, sagte er. Selbst ein Verbotsverfahren gegen die AfD hält er nicht für ausgeschlossen, „wenn die Partei sich weiter radikalisiert.“

Als „völlig überzogen und jedes vernünftige Maß vermissen lassend“ bezeichnet das Jörg Meuthen. Der AfD-Bundesvorsitzende hatte sich zunächst tagelang nicht zu den Vorgängen geäußert, die vor allem in die Verantwortung von Gauland, Weidel und Chrupalla fallen, die seine Kontrahent*innen sind. Allerdings zahlt den Preis die gesamte Partei, und der könnte hoch ausfallen und rasch fällig werden. Denn bereits seit einer Weile wird eine Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz erwartet, ob künftig die komplette AfD als Verdachtsfall eingestuft wird. Wenn man so will, haben gerade einige von Gaulands Leuten ein recht gewichtiges Argument für diesen Schritt präsentiert – Mandatsmissbrauch.