Am Mittwoch wollen Bundestag und Bundesrat das Infektionsschutzgesetz überarbeiten. Das will die sächsische AfD-Fraktion torpedieren und ließ trotz Corona-Fällen eine Sondersitzung des Landtags einberufen. Sie kann allerdings erst am Donnerstag stattfinden. Ein peinliches Manöver – es dokumentiert aber auch die Nähe zur „Querdenken“-Bewegung, die immer radikaler wird.
Beitrag vom 17.11.2020, 18:30 Uhr │ Im Bild: AfD-Fraktionschef Jörg Urban am Montag im Landtag. Er wusste noch nicht, dass die Sondersitzung erst am Donnerstag stattfinden kann.
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Überrumpelung gescheitert
Der Plan war kühn und ging daneben: Die AfD-Landtagsfraktion hat gestern überraschend eine Sondersitzung beantragt. Das ganze Plenum soll kurzfristig zusammentreten, trotz mehrerer aktueller Corona-Infektionen bei Abgeordneten. In einem Fall, der die AfD betrifft, war sogar eine stationäre Behandlung erforderlich. Doch die Geschäftsordnung ist eindeutig, das Parlament muss einberufen werden, wenn es mindestens ein Viertel aller Mitglieder verlangt. So viele hat die AfD-Fraktion in ihren eigenen Reihen, 32 der insgesamt 38 Abgeordneten unterzeichneten den Antrag. Er enthielt auch einen Terminvorschlag, schon heute Abend, 18 Uhr. Doch dabei spielte Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU) nicht mit und änderte den Termin auf Donnerstag, 10 Uhr.
Dabei wird es aller Voraussicht nach auch bleiben, obwohl die Sitzung von geringem Nutzen ist. Es wird nur einen einzigen Tagesordnungspunkt geben: einen Antrag der AfD, das „Dritte Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung“ abzulehnen. Das steht jedoch bereits am Mittwoch im Bundestag und danach im Bundesrat zur Abstimmung, es könnte unmittelbar im Anschluss durch den Bundespräsidenten unterzeichnet werden. Damit wird das Infektionsschutzgesetz novelliert, ein Vorgang, der nicht nur sächsische Leugner*innen der Pandemie und Gegner*innen ihrer Eindämmung in Unruhe versetzt. Auch in Brandenburg hat die AfD-Fraktion eine Landtagssondersitzung erwirkt, morgen früh um 9 Uhr. Etwa zu der Zeit wird für mehrere Kundgebungen im Berliner Regierungsviertel geworben, „Querdenker“, Reichsbürger und Neonazis wollen kommen. In Dresden wiederum wollte die AfD-Fraktion die Landesregierung in letzter Minute dazu bringen, sich im Bundesrat und „auf allen Ebenen“ gegen den Gesetzentwurf zu stemmen.
Dem werden sich, das gilt als sicher, die demokratischen Fraktionen nicht anschließen. Ohnehin wäre „eine Bindung der Staatsregierung durch einen Landtagsbeschluss bezüglich ihres Abstimmungsverhaltens im Bundesrat verfassungsrechtlich unzulässig“, teilte Rößler mit. Die Verlegung auf den Donnerstag begründete er damit, dass möglichst vielen Abgeordneten die Teilnahme ermöglicht werden muss, sonst ist das Plenum von Anbeginn nicht beschlussfähig. Dass Bundestag und Bundesrat am Mittwoch abstimmen werden, ist außerdem bereits seit einer Woche bekannt, „eine deutlich frühere Antragstellung wäre daher möglich gewesen.“ Aus eigenem Unvermögen, so darf man das verstehen, wird der Überrumpelungsversuch von rechtsaußen ins Leere gehen.
Angeblicher „Anschlag auf die Demokratie“
Bereits am Wochenende hatte der AfD-Landesvorsitzende und Fraktionschef Jörg Urban vor einem „Anschlag auf die Demokratie“ gewarnt. Denn nach seiner Lesart soll das Infektionsschutzgesetz bald „zeitlich unbefristete Maßnahmen“ ermöglichen, um „jeden Widerstand gegen die als ‚alternativlos‘ deklarierte Corona-Politik zu unterdrücken“. Bei einer Pressekonferenz am Montag rügte Urban, dass „wieder ohne Einbeziehung der Parlamente eine drastische Einschränkung der Grundrechte droht“. Künftig sollen ab einer bestimmten Neuinfektionsrate „automatisch drakonische Eingriffe in die Grundrechte“ vorgenommen werden, behauptet die AfD. Sie hat einmal mehr alternative Vorschläge erarbeitet, die teils längst umgesetzt werden, teils unkonkret sind. So soll etwa die Lage nicht länger durch Politiker*innen, sondern durch einen „Expertenrat“ bewertet werden. Wie es um dessen demokratische Legitimation bestellt wäre und an welche Art von Expert*innen dabei gedacht wird, das kann man nur vermuten.
Tatsächlich ist die Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes umkämpft, ganz unabhängig von der AfD. Der Gesetzentwurf, um den es morgen in Berlin geht, wird daher vor allem juristischen Bedenken begegnen. Bisher wurden die Maßnahmen der Länder zur Eindämmung der Pandemie auf eine allgemein gehaltene Generalklausel gestützt. Künftig wird das Gesetz einen Katalog von Einzelschritten enthalten, die auf die Covid-19-Erkrankung zugeschnitten sind. Mitunter steigen dafür die Hürden, etwa für Einschnitte der Versammlungsfreiheit, für Ausgangsbeschränkungen oder Besuchsverbote in Pflegeeinrichtungen. Neu ist auch: Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz über 50 müssen die Länder „umfassende Schutzmaßnahmen“ ergreifen. Allerdings werden die Spielräume deutlich enger, die einschlägigen Rechtsverordnungen sind künftig inhaltlich zu begründen und zeitlich zu befristen, in der Regel auf vier Wochen. Die Bundesregierung wird dem Bundestag zudem regelmäßig berichten, und er kann seinerseits einschreiten.
Angeblich automatische Einschränkungen von Grundrechten, unbefristete Maßnahmen, drakonische Eingriffe, die Ausschaltung von Parlamenten – davon kann gerade nicht die Rede sein. Die Kritik der derzeit tonangebenden „Querdenken“-Initiativen und ihrer Fans hält sich denn auch an einem völlig anderen Punkt auf, eigentlich an einem Wort: Das Infektionsschutzgesetz „ermächtigt“ das Bundesgesundheitsministerium unter bestimmten Umständen, gegen die weitere Ausbreitung der Pandemie mit Hilfe von Rechtsverordnungen vorzugehen. Obwohl das schon bisher so ist und das Grundgesetz diesen Weg ausdrücklich ermöglicht, wird die Novelle beharrlich als „Ermächtigungsgesetz“ tituliert und damit dem Gesetz der Nationalsozialisten aus dem März 1933 gleichgestellt, das so geheißen und der faschistischen Diktatur eine formelle Grundlage gegeben hat.
AfD stimmte selbst für „Ermächtigungen“
Auch der aus Sachsen stammende Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse schreibt und spricht derzeit von einem „Ermächtigungsgesetz“. Es werde „mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit durchgeprügelt“, behauptet er bei Facebook. Allerdings wurde bereits im März im Zuge der Pandemiebekämpfung das „Gesetz zur befristeten krisenbedingten Verbesserung der Regelungen für das Kurzarbeitergeld“ im Bundestag beschlossen, am gleichen Tag stimmte der Bundesrat zu, ein ähnliches Schnellverfahren wie jetzt. Das Gesetz räumt der Bundesregierung umfangreiche Ermächtigungen ein, um Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt kurzfristig abzufedern. Dafür sprach sich der Bundestag damals einstimmig aus. Auch Hilse AfD-Fraktion.
Geändert hat sich inzwischen, dass die AfD, die damals noch weitergehende Maßnahmen einforderte, heute das glatte Gegenteil vertritt und sich als Anti-Lockdown-Partei positioniert. Hilse wiederum, der lange als einer der schrillsten Leugner des menschengemachten Klimawandels auffiel, hat sich auf die Pandemie verlegt, er ist seit Monaten auf entsprechenden Versammlungen zu sehen, üblicherweise ohne Maske, und stand im Bundestag neulich mit einem „Querdenken“-Shirt am Rednerpult. Seit vergangenem Freitag bewirbt er einen Aufruf des Dresdner „Querdenken“-Ablegers, Bundestagsabgeordnete direkt zu kontaktieren und aufzufordern, gegen das „Ermächtigungsgesetz“ zu stimmen. Inzwischen berichten alle demokratischen Fraktionen über eine massive Flut von Anrufen und Mails, teils auch über Drohungen.
Ein „Querdenken“-Flugblatt enthält Links zu den nötigen Kontaktdaten von Abgeordnetenbüros, säuberlich aufgereiht in langen Tabellen. Hilse verbreitet dieses Flugblatt. Möglicherweise hat er noch mehr beigetragen: Nachrichten aus Chatgruppen, die idas vorliegen, behaupten wörtlich, dass das Flugblatt „unter Mitwirkung von Karsten Hilse“ entstanden sei. Unter Mitgliedern seines Bautzner Kreisverbandes wird außerdem aufgerufen, insbesondere die Dresdner „Querdenken“-Initiative zu unterstützen. Sie will am 12. Dezember in der Landeshauptstadt demonstrieren, nachdem das Ende Oktober schon einmal geschehen war – unter massenhaftem Bruch der Auflagen, geduldet durch Polizei und Versammlungsbehörde. Nur eine Woche später kam es dann in Leipzig nach der gescheiterten Auflösung einer „Querdenken“-Kundgebung zu massiven Ausschreitungen und Gewalttaten.
Partei nimmt „Querdenken“ in Schutz
Hilse, von Beruf Polizeibeamter, war in Dresden wie auch in Leipzig vor Ort. Er war auch bereits im August in Berlin dabei. Damals waren im Anschluss an eine „Querdenken“-Massenversammlung die Treppen des Reichstagsgebäudes besetzt worden. Die auch als „Reichstagssturm“ bezeichnete Aktion produzierte starke Bilder, und mit ihnen wird für das geworben, was sich morgen rings um das Parlament abspielen könnte. Einen der zahlreichen Aufrufe verbreitet Hilse, Aufschrift auf einer zugehörigen Grafik: „Unsere Zivilisation – unsere Regeln“. Unter demselben Motto waren am vergangenen Mittwoch polnische Radikalnationalist*innen durch Warschau gezogen, trotz Verbots. Sie wandten sich vor allem gegen LGBT-Gruppen.
Kurios genug: In den Berlin-Aufrufen wird unverhohlen dafür geworben, ins Regierungsviertel auszuschwärmen und die Zugänge zum Parlament zu blockieren. Auch strategisch günstige Punkte werden genannt, unter Berufung auf „Insiderinformationen von einem Abgeordneten“, dessen Name nicht fällt. Zuletzt wurden Versammlungen in unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes verboten, weil Übergriffe befürchtet werden. Falls die Belagerung dennoch gelingt, wird genau das wahr, was die AfD anprangert, und das Parlament lahmgelegt.
Ein Problem in solchen Aktionen sieht die Partei mit ihren Fraktionen offenbar nicht. So hat sich die sächsische Landtagsfraktion von den jüngsten Exzessen in Leipzig nicht einfach distanziert, sondern dem Gegenprotest die Schuld für Ausschreitungen zugewiesen. Auf Berichte, wonach sich die „Querdenker“ radikalisieren, reagierte gestern Alexander Gauland. Er spricht von einer „regierungskritischen Bewegung, die regelmäßig Zehntausende Menschen auf die Straße bringt“. Warnungen vor Fehlentwicklungen seien „nicht hinreichend belegt“, urteilt der Parteipatriarch. Dafür, dass die AfD eine Zusammenarbeit anstrebt und sich aktuell an einer konzertierten Kampagne beteiligt, spricht allerdings sehr viel.