Sächsischer AfD-Funktionär war beim versuchten „Reichstagssturm“

Arthur Österle war dabei, als Neonazis und Reichsbürger am Samstag versucht haben, ins Parlament einzudringen. Viele andere aus der AfD beteiligten sich unterdessen an den offiziellen „Querdenken“-Protesten in Berlin. Doch es gab und gibt auch starke Vorbehalte: Die Partei- und Fraktionsspitzen im Bund wie auch in Sachsen mobilisierten zwar kräftig mit – blieben aber selbst fern.


Im Bild: Arthur Österle auf den Treppen des Reichstagsgebäudes. Wir zeigen den Ausschnitt mit freundlicher Genehmigung des RechercheNetzwerk.Berlin. Die Gesamtansicht und weitere Fotos sind bei Flickr abrufbar.


Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten

Der bekannte sächsische AfD-Aktivist Arthur Österle war am vergangenen Samstag am versuchten „Sturm auf den Reichstag“ beteiligt. Ein Foto zeigt ihn auf den Treppen vor dem Haupteingang, gemeinsam mit zahlreichen weiteren Personen und etlichen schwarz-weiß-roten Reichsfahnen. Die Aufnahme entstand um 19.17 Uhr, noch bevor es der Polizei gelang, die durch bis zu 400 Menschen belagerte Parlamentspforte zu räumen. Unmittelbar zuvor hatte eine Rednerin bei einer nahegelegenen Reichsbürger-Kundgebung behauptet, dass US-Präsident Donald Trump in Berlin eingetroffen sei und man „hier und jetzt unser Haus“ zurückholen müsse. Daraufhin strömten zahlreiche Teilnehmende in Richtung des Reichstagsgebäudes, überwanden Absperrgitter und gelangten so bis unmittelbar vor den Haupteingang.

Er war in diesem Moment nur durch einige wenige Polizist*innen gesichert, die ein Vordringen ins Innere verhindern konnten. Andere Einsatzkräfte waren zu diesem Zeitpunkt bemüht, weiteren Zustrom auf die Reichstagswiese aus Richtung Tiergarten zu verhindern, was nicht gelang. Die dadurch noch angewachsene Belagerung konnte erst zurückgedrängt werden, als Verstärkung eintraf. Dabei leisteten einige Beteiligte Widerstand, lieferten sich ein Handgemenge. Zudem wurde eine unbekannte Substanz in Richtung der Polizei versprüht, womöglich Pfefferspray. Noch unklar ist, woher genau Österle gekommen war: Er hatte weiteren Bild- und Videoaufnahmen zufolge vorher im Stadtgebiet den AfD-Bundestagsabgeordneten Ulrich Oehme begleitet.

Oehme tritt aktuell in Chemnitz als Oberbürgermeisterkandidat an. Er hatte Österle vor einigen Monaten bei sich angestellt, wird seither durch ihn zu etlichen öffentlichen Auftritten begleitet, offenbar zum Schutz. Der 47-Jährige war vor einigen Jahren bei den extrem rechten Protestbündnissen „Pegida Chemnitz“ und „Heimattreue Niederdorf“ aktiv. Überregional bekannt wurde er 2018 als Chefordner und Einheizer bei „Pro Chemnitz“. Zudem nahm er an mindestens einer Kundgebung der Neonazipartei „Der III. Weg“ teil. Heute ist er Mitglied der AfD, sitzt für die Partei im Gemeinderat seines Wohnorts Burkhardtsdorf und zudem im Vorstand des Kreisverbandes Erzgebirge. Damit ist er Funktionär der sächsischen AfD.

Österle lacht, Polizei ermittelt

Von der eigenen Anwesenheit hat sich Österle nicht distanziert. Auf seinem Facebook-Profil sind derzeit Videoaufnahmen zu sehen, die dokumentieren, wie die Reichstagstreppe besetzt wurde. Diese Aufnahmen stammen von dem Neonazi Nikolai Nerling, einem auch als „Volkslehrer“ bekannten Youtuber, Neonazi und Antisemiten. Ein zweiter Clip zeigt Versuche einzelner Polizist*innen, Personen vom Betreten der Treppe abzuhalten. „Überrennen habe ich mir irgendwie anders vorgestellt“, schreibt der AfD-Mann dazu – und ergänzt das mit lachenden Smileys. Im Zusammenhang mit den Ereignissen wurden inzwischen Ermittlungen wegen des Verdachts des Landfriedensbruchs eingeleitet.

Österle war nicht der Einzige aus der AfD, der mittendrin war. Gavin Singer, bislang Mitglied der brandenburgischen „Jungen Alternative“ (JA) aus Rathenow, schaffte es auf der Treppe bis fast nach oben, stand dort vis-à-vis mit den wenigen Einsatzkräften. Er hat sich inzwischen von seiner Teilnahme distanziert, die parteinahe Wochenzeitung Junge Freiheit vermeldete am Sonntag seinen Austritt aus dem AfD-Nachwuchsverband. Die Berliner JA verurteilte die Aktion, nannte die Beteiligten gegenüber der Zeitung „Ewiggestrige und Spinner“.

Bereits im Vorfeld hielt sich das bayrische AfD-Mitglied Rüdiger Imgart bei der Reichsbürger-Kundgebung auf, bei der später das Startsignal zu den Ausschreitungen gegeben wurde. Imgart ist Rechtsanwalt und als Vorsitzender des Kreisverbandes Weilheim-Schongau ebenfalls ein Funktionär der Partei. Auf deren Vorschlag ist er in Bayern als ehrenamtlicher Verfassungsrichter tätig. Belastbare Hinweise, dass die spätere Aktion vorbereitet war, gibt es derzeit nicht. Allerdings war im Zuge der umfangreichen Mobilisierung in die Bundeshauptstadt bereits von einem „Sturm auf Berlin“ mit dem Reichstagsgebäude als Zielpunkt die Rede gewesen. Zudem kursierten in Chatgruppen martialische Gewaltaufrufe.

Trotz Verbots: Gerichte erlaubten den Protest

Die Szenen vor dem Reichstagsgebäude waren der unrühmliche Höhepunkt eines massenhaften Protests gegen die Eindämmung der Corona-Pandemie, an dem sich nach vorläufigen Angaben mindestens 38.000 Personen beteiligten — mit wenig Abstand und überwiegend ohne Masken. Dahinter stand die Stuttgarter Initiative „Querdenken 711“ um den IT-Unternehmer Michael Ballweg. Das Bündnis hatte am 1. August schon einmal in Berlin demonstriert, mit bis zu 30.000 Beteiligten. Die Polizei hatte die Abschlusskundgebung damals vorzeitig aufgelöst, nachdem systematisch gegen Hygieneauflagen verstoßen worden war. Bei einem Räumungsversuch wurden Einsatzkräfte verletzt, zudem Journalist*innen angegriffen. Weil auch diesmal mit einer Einhaltung der Auflagen nicht zu rechnen war, wurde die Neuauflage zunächst verboten, dann aber verwaltungsgerichtlich wieder erlaubt.

Ballweg kam dabei der Leipziger Rechtsanwalt und Corona-Aktivist Ralf Ludwig zur Hilfe. Er war es auch, der dazu aufrief, die Berliner Versammlungsbehörde mit neuen Anmeldungen zu fluten, die Hauptstadt bietet dafür ein Online-Formular an. In kurzer Zeit kamen so mehr als 5.000 Zusatz-Anmeldungen zusammen. Sie unterlagen als Ersatzveranstaltungen zwar ebenfalls der Verbotsverfügung, müssen aber einzeln beschieden werden. Offenbar sollte so die Verwaltung abgestraft und lahmgelegt werden. Auch die AfD schaltete sich ein, rief zu einer „Demo gegen das Demoverbot“ vor dem Brandenburger Tor auf. Die Partei forderte ferner den Rücktritt des zuständigen Innensenators Andreas Geisel (SPD) und verglich ihn mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenka. Doch letztlich durfte die Auftaktkundgebung („Versammlung für die Freiheit“) wie geplant am späten Vormittag in der Friedrichstraße starten. Von dort sollte es durch die Torstraße, vorbei am Rathaus über die Leipziger und Dorotheenstraße zum Brandenburger Tor und zur Straße des 17. Juni gehen.

Allerdings kam es, wie erwartet: Auflagen wurden von Anbeginn nicht eingehalten. Die Polizei beendete daraufhin die Kundgebung. Bereits hier kam es zu ersten Rangeleien, außerdem zu Stein- und Flaschenwürfen auf die Polizei, erneut wurden auch Journalist*innen bedrängt. Später sammelten sich zahlreiche Personen vor der russischen Botschaft Unter den Linden, wo unter anderem ein „Friedensvertrag“ eingefordert wurde. Auch dort folgten handgreifliche Auseinandersetzungen. Viele, die zum Protestieren gekommen waren, zogen indes zur Siegessäule weiter. Dort war für den Nachmittag eine Abschlusskundgebung („Fest für Frieden und Freiheit“) angemeldet, die wie geplant ablief. Eine der Forderungen auf der Bühne: Deutschland müsse eine neue Verfassung bekommen. Räumlich wie thematisch war das nicht mehr weit weg von dem späteren Reichsbürger-Treff vor dem Parlament.

Viele AfD-Größen – aus der zweiten Reihe

Alle Spektren der organisierten Rechten in Deutschland hatten nach Berlin gerufen, auch die AfD. Die Partei dominierte das Geschehen allerdings nicht, zu Ballungen kam es unter anderem am Hauptbahnhof und am Brandenburger Tor. Mindestens 42 AfD-Bundestagsabgeordnete waren vor Ort, das ist fast die Hälfte der Fraktion. Darunter waren mit Siegbert Droese, Jens Maier, Ulrich Oehme und Karsten Hilse auch vier der acht sächsischen Fraktionsmitglieder. Bizarr: Hilse veröffentlichte ein Foto, das ihn gemeinsam mit dem thüringischen AfD-Bundestagsabgeordneten Robby Schlund zeigt. Sie sind umgeben von Plakaten, auf denen bekannte Politiker*innen, aber beispielsweise auch der Virologe Christoph Drosten in Sträflingsuniform und der Aufschrift „schuldig“ zu sehen sind.

In Berlin dabei waren außerdem mindestens 13 der insgesamt 38 sächsischen AfD-Landtagsmitglieder. Darunter war beispielsweise Doreen Schwieter. Sie war im März die erste und damals einzige AfD-Abgeordnete gewesen, die im Landtag einen Mundschutz trägt, damals freiwillig und aus Angst vor einer Ansteckung. Ebenfalls unter den Protestierenden war Thomas Kirste, Abgeordneter und derzeit AfD-Landratskandidat für den Kreis Meißen. In einem begeisterten Reisebericht behauptet er, „100.000de Menschen“ gesehen zu haben, und hebt hervor, dass „eine verfassungsgebende Versammlung nach Artikel 146 des Grundgesetzes anberaumt“ worden sei. In einem weiteren Beitrag distanziert er sich von dem Eindruck, damit eine Reichsbürger-These aufgegriffen zu haben. „Total ernüchternd“ fand das Wochenende dagegen Roberto Kuhnert. In einem Facebook-Beitrag warf er der „Querdenken“-Initiative vor, „links“ zu sein und mokierte sich über die „Massen-Meditation 60-70 jähriger ‚Blumenkinder‘ und ‚Pace-Täubchen'“. Damit gebe man sich der Lächerlichkeit preis, „Merkel und Gefolge sind mit Sicherheit amüsiert“. In einem weiteren Kommentar nennt er die Veranstalter*innen „bekennende Feinde unserer AfD“ und „Teil des Merkel-Systems hin zur NWO“, also der von Verschwörungsideolog*innen gefürchteten „Neuen Weltordnung“.

Was auffällt: Die Spitzen der Bundespartei und der Bundestagsfraktion fehlten, ebenso die der sächsischen Landespartei und ihrer hiesigen Landtagsfraktion. Der Parteivorsitzende Jörg Meuthen hatte bereits Anfang des Monats zu erkennen gegeben, dass er an dieser Sorte des Protests zweifelt und – was ihm viel Kritik einbrachte – den Beteiligten geraten, ihren „Geisteszustand überprüfen“ zu lassen. Der Co-Vorsitzende Tino Chrupalla hatte diesmal zwar ausdrücklich zur Teilnahme aufgerufen und die Proteste schon im Voraus „couragiert und demokratisch“ genannt. Doch er war nicht dabei, ist nach eigenen Angaben gerade im Urlaub. Die Bundestags-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel nannte die anstehenden Aktionen „mutig und absolut begrüssenswert“, wusste aber schon vorher, dass sie nicht in Berlin sein würde. Alexander Gauland, ebenfalls Fraktionschef und zudem Ehrenvorsitzender der Partei, sagte zum ganzen Thema nichts, durch seine emphatische Parteinahme für den Neonazi Andreas Kalbitz ist er sowieso schon angeschlagen.

Befürchtungen wurden wahr

Ähnlich ist das Bild für Sachsen. Mehrere Kreisverbände waren mit ganzen Busladungen nach Berlin gekommen, viele trugen schlumpfblaue Mützen, manche hielten Parteiplakate ohne Parteilogo. Auch sechs Mitglieder des Landes- und drei Mitglieder des Fraktionsvorstands waren zu sehen, doch das war nur die zweite Reihe. Es fehlten offenbar der Landesvorsitzende Jörg Urban und dessen Generalsekretär Jan Zwerg, die auch die Landtagsfraktion anführen. Urban hatte vorher „alle kritischen und denkenden Bürger“ aufgerufen, sich den Protesten anzuschließen, nahm sich davon aber aus. Zwerg veröffentlichte hinterher ein Lob auf „kreative Proteste“, die „in dieser Dimension wohl einzigartig in der jüngeren Geschichte der BRD“ seien. Das werde durch die AfD „voll und ganz mitgetragen“, schreibt er – aus der Ferne.

Tatsächlich sind die Corona-Proteste in der Partei viel umstrittener, als es von außen scheint. So warnte Jörg Meuthen in einer Sitzung des Bundesvorstands und auch in einer Telefonkonferenz mit den Landesvorsitzenden vor einer offenen Unterstützung, vor allem im Hinblick auf die Beteiligung von Neonazis und Reichsbürgern. Weitere Spitzenleute der AfD sollen diese Vorbehalte geteilt haben, auch aus Sorge, dass Ausschreitungen der Partei angelastet werden könnten. Eine realistische Chance, sich an die Spitze der Proteste zu setzen und sie dadurch zu steuern, sieht man überwiegend nicht, schon bisher hatte das nur in einigen Regionen funktioniert. Am Ende stand eine Art Kompromiss: Teilnahme wenn, dann ohne die Insignien der AfD. Um das zu ermöglichen, wurde sogar eine große Klausurtagung der Arbeitskreise der Bundestagsfraktion um einen Tag verschoben.

Die Corona-Proteste, das ahnt man wohl auch in der AfD, sind kein zukunftsträchtiges Thema mehr, die maßgeblichen Einschränkungen („Lockdown“) wurden längst zurückgefahren. Mehrere repräsentative Umfragen aus der ersten Augusthälfte zeigen, dass der Virus zwar immer noch das bestimmende Thema für die meisten Bundesbürger*innen ist. Doch nur elf Prozent gehen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu weit, nur neun Prozent haben Verständnis für die Proteste und nur für vier Prozent sind sie wichtig. Unter den AfD-Anhänger*innen sind die Werte freilich anders. Sie hinterlassen aber auch dort ein gespaltenes Bild, selbst 41 Prozent ihrer Wähler*innen befürworten die Proteste nicht. Das ist kein Vergleich mit dem wesentlich größeren Anklang, den vor einigen Jahren die Pegida-Themen fanden.

Chrupalla wittert „V-Leute“

Inzwischen zog die Polizei eine Bilanz: Bei den Massenprotesten gab es insgesamt 316 Festnahmen und 33 verletzte Beamt*innen. Bislang wurden 131 Strafanzeigen gefertigt, die Reichstags-Aktion noch nicht eingerechnet. Offenbar waren die im Vorfeld verbreiteten Gewaltaufrufe auch nicht ohne Resonanz geblieben, im Bereich der Siegessäule wurde eine Person festgenommen, die einen Revolver mitführte. Im Nachgang distanzierten sich alle Parlamentsparteien an der augenfälligen Beteiligung von Neonazis, von den Eskalationen am Rande der offiziellen Versammlungen wie auch von den Ausschreitungen am Reichstagsgebäude.

Das AfD-Resümee fällt etwas anders aus, dort gibt es nach offizieller Diktion keine prinzipiellen Zweifel an den Protesten. Alice Weidel sagte am Sonntag, es sei „inakzeptabel, dass einige Chaoten nach der friedlichen Corona-Demonstration in Berlin die Polizeiabsperrungen vor dem Reichstag durchbrochen haben“. Ähnlich äußerte sich Beatrix von Storch, sie nannte wehende Reichsfahnen „nicht in Ordnung“. Die offiziellen Demonstrationen, bei denen ebenfalls Reichsfahnen wehten, seien jedoch ein „friedliches Volksfest“ gewesen, das lasse man sich „nicht kaputtmachen von den paar Vollidioten“. Tino Chrupalla richtete seinen Dank an „alle, die gestern auf der Coronademo FRIEDLICH für Freiheit und Demokratie demonstriert haben“. Der „großartiger Erfolg dieses bürgerlichen Protestes gegen die Politik der etablierten Parteien“ werde durch „die wenigen Randalierer nicht geschmälert“.

Inzwischen ruderte Chrupalla zurück. Heute veröffentlichte er einen Fragenkatalog, den er gern von Berlins Innensenator Andreas Geisel beantwortet haben möchte. Unter anderem will der Abgeordnete wissen, ob Behörden „den angeblichen ‚Sturm auf den Reichstag‘ bewusst ‚genehmigt'“ haben, „wie viele V-Leute bei der Aktion auf den Treppenstufen dabei waren“ und warum „kein Journalist solche Fragen stellt“. Vielleicht fragt Chrupalla einfach mal Arthur Österle.