„Leute, die sich gern exponieren“

Kommentar │ Bei den sogenannten Querdenkern haben sich am Samstag in Leipzig neben militanten Neonazis und Hooligans auch einige bekannte AfD-Politiker*innen eingereiht – allerdings nicht so viele und nicht so geballt wie noch im Sommer in Berlin. Das hat die Partei inzwischen gar nicht mehr nötig, analysiert idas-Redakteurin Milena Kovacs.


Beitrag vom 09.11.2020, 17:50 Uhr │ Im Bild: Der AfD-Bundestagsabgeordnete Siegbert Droese (r.) bei „Querdenken“ in Leipzig, hier mit seinen örtlichen Stadtrats-Kollegen Karl-Heinz Obser und Christian Kriegel.


Gewalteinsatz war Arbeitsteilung

Die Fakten sind bekannt: Tausende Menschen haben sich am Samstag auf und rund um den Leipziger Augustusplatz versammelt, um gegen die Corona-Eindämmung zu protestieren oder die Pandemie komplett zu bestreiten. Sie waren der Initiative „Querdenken“ und dem örtlichen Ableger gefolgt, die einen Demonstrationszug um den Innenstadtring und den unbescheidenen Aufrufen zufolge eine anschließende Revolution geplant hatten. Die Stadt wollte das Großtreffen an den Rand umlenken, auf den Parkplatz der Neuen Messe. Doch das Oberverwaltungsgericht in Bautzen sah das kurzfristig anders und gestattete, dass sich 16.000 Menschen in der City einfinden. Eine schriftliche Urteilsbegründung liegt bis heute nicht vor.

Das Gericht machte es den Beteiligten immerhin zur „Pflicht, eine Mund-Nasenbedeckung zu tragen“. Daran hielt sich fast niemand und es kamen weit mehr, als vorgesehen – rund 20.000 nach Angaben der Polizei, laut Forschungsgruppe „Durchgezählt“ sogar 45.000. Der sächsische AfD-Sprecher Andreas Harlaß, selbst vor Ort, nahm das zum Anlass, seine eigene Schätzung nach oben zu treiben, inzwischen liegt er bei „etwa 100.000“. Das ist so abwegig wie das in Bautzen erfundene Limit. Denn selbst wenn alles in diesem begrenzten Rahmen geblieben wäre, hätten die Mindestabstände nicht eingehalten werden können. Darauf war aber ohnehin niemand aus. Wegen fortwährenden Bruchs der Auflagen und massenhafter Verstöße gegen die Corona-Schutzverordnung erklärte die Versammlungsbehörde die Kundgebung zweieinhalb Stunden nach dem offiziellen Beginn für beendet. Vorbei war sie dann noch lange nicht.

Die Auflösung umzusetzen wäre die Aufgabe der Polizei gewesen. Sie zog sich stattdessen zurück, nachdem zahlreiche Neonazis und Hooligans regelrechte Straßenschlachten anzettelten, Einsatzkräfte zurückdrängten und auf Journalist*innen losgingen. Der Weg auf den Ring wurde im Wortsinne freigeschlagen, die Umrundung misslang vor allem, weil eine Gegenkundgebung nicht gewichen ist. Gewiss: Neonazis und Hooligans, so weit sie als solche erkennbar waren, blieben eine Minderheit, sie dominierten nicht nach reinen Zahlen. Aber sie ermöglichten den verbotenen Demonstrationszug, den „Querdenken“ unbedingt wollte. Der Einsatz roher Gewalt war damit kein zufälliges Randgeschehen, sondern planvolle Arbeitsteilung. Wer die dabei entstandenen Bilder aufmerksam ansieht, wird erkennen, dass in diesem Moment der Stärke auch solche Leute die Fäuste, Steine und Flaschen fliegen ließen, die man optisch eher dem „bürgerlichen“ Spektrum zugerechnet hätte.

AfD schweigt zu den Ereignissen

Was es nicht gab, ist eine glaubhafte Distanzierung durch „Querdenken“, weder vor Ort noch im Nachgang. Anführer Michael Ballweg, der nicht nach Leipzig gekommen war, wurde seither nicht müde, auf Nachfragen im Internet mit dem immer gleichen kurzen Videoclip zu antworten, auf dem man das, was geschehen ist, nicht sieht, sondern nur Leute, die sich darüber freuen. Hinweise auf Ausschreitungen kontert er mit der Behauptung, dass das in Wirklichkeit die Antifa gewesen sei. Ballweg, der es besser weiß, ist ein professioneller Lügner und steht damit nicht alleine da. So gab Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) am Sonntag eine bizarre Pressekonferenz, bei der Nachfragen nicht erlaubt waren. Nur so konnte er unbehelligt seine Auffassung dartun, dass der Polizeieinsatz „gelungen“ und das Corona-Gewalt-Event „friedlich“ gewesen sei. Kein Wort über Verletzte, kein Bedauern, dass die Pressefreiheit nicht gewährleistet war. Kritik an der Polizei verbat sich Wöller jedoch. Er erwehrt sich derzeit noch des Gedankens, dass er selbst die politische Verantwortung trägt.

Noch auffälliger ist nur die Reaktion der AfD – denn die ansonsten so mitteilsame Partei schweigt. Eine seltene Ausnahme ist der Leipziger Stadtrat Christian Kriegel, der auf dem Augustusplatz war. Der Leipziger Volkszeitung sagte er, dass eine „überwältigende Mehrheit“ der Teilnehmenden „friedlich das demokratische Recht auf Versammlungsfreiheit wahrgenommen“ habe. Richtig ist, dass von vielen Anwesenden persönlich keine Gewalt ausging, wenn man von der bereitwillig eingegangenen Gefahr absieht, zur Verbreitung des Virus und zur Verschlimmerung der Pandemie beizutragen. Unter einem strafrechtlichen Gesichtspunkt könnte es sich trotzdem so darstellen, dass die „überwältigende Mehrheit“ die Grenzen des Versammlungsrechts gebrochen und sich an einem besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs beteiligt hat.

Dass es so kommen könnte, erklärt die Zurückhaltung der AfD bereits im Vorfeld. Aufrufe, nach Leipzig zu reisen, verbreitete die Partei erst in der vergangenen Woche. Am Donnerstag postete der sächsische Landesverband einen „Querdenken“-Trailer und verschrieb sich der „Verteidigung der im Grundgesetz festgehaltenen Freiheiten“, wie es bei Facebook heißt. „Viele AfD-Politiker werden sich daher an diesem friedlichen Protest beteiligen“, lautete die Botschaft. Zu diesem Zeitpunkt lief die Mobilisierung bereits wochenlang und zog, so weit man das einschätzen kann, auch ohne Zutun der Partei ihre Kreise. Zu bemerken war im Vorfeld nur, dass sich der Kreisverband Leipzig in den Versuch einschaltete, Übernachtungsplätze bereitzustellen, etwa im Hotel „Don Giovanni“. Daran verdiente womöglich der Bundestagsabgeordnete Siegbert Droese mit, es handelt sich um ein Familienunternehmen, die Geschäftsführerin ist seine Schwester.

Kaum Parteilogos, wenig Bekenntnismut

Und die „vielen AfD-Politiker“, die kommen wollten? Die gab es, neben Droese etwa die Bundestagsabgeordneten Karsten Hilse und Ulrich Oehme sowie die sächsischen Landtagsmitglieder Jörg Dornau, Thomas Kirste, Lars Kuppi, Alexander Wiesner und Rolf Weigand, der zugleich Landeschef der Jungen Alternative ist. Aus deren Reihen schloss sich Jonas Dünzel an, der demnächst Bundesvorsitzender der Nachwuchsorganisation werden will. Ebenfalls zu sehen waren Mitglieder des Landesvorstands der AfD, etwa Matthias Moosdorf, der rechtsmotivierte Straftäter Daniel Zabel sowie Andreas Harlaß, im Hauptberuf Sprecher der Landtagsfraktion und neuerdings Bundestags-Direktkandidat. Von weiter her kamen die beiden sachsen-anhaltischen Parlamentsmitglieder Hans-Thomas Tillschneider und Daniel Wald, die Berliner Abgeordneten Jessica Bießmann und Gunnar Lindemann sowie Thomas Röckemann, der im Landtag von Nordrhein-Westfalen sitzt. Nicht zu vergessen sind bekannte Ex-Mitglieder wie der Nationalsozialist André Poggenburg, der exaltierte Landespolitiker Heinrich Fiechtner aus Baden-Württemberg und der ehemalige Landeschef Ralf Özkara.

Allerdings fiel der AfD-Andrang weit geringer aus als am 29. August in Berlin, wo fast die Hälfte der Bundestagsfraktion auflief. In Leipzig hingegen gab es kein derart geballtes Auftreten, zudem nur wenige Parteilogos und hinterher kaum Bekenntnismut derer, die sonst gerne zeigen, wo sie sie sich tummeln. Das ist nachvollziehbar. Zum einen lag das am Terminkalender, denn am gleichen Wochenende trafen sich der Bundesvorstand und die Landesspitzen in Thüringen zu einer Klausurtagung, das band viele Kader. Zum anderen war die weitere Entwicklung absehbar, mit der sich die Partei lieber nicht in Verbindung bringen lassen will. Schon im Vorfeld der Ereignisse in Berlin, die im „Reichstagssturm“ gipfelten, hatte Parteichef Jörg Meuthen intern vor einer allzu sorglosen Annäherung an solche Proteste gewarnt. Die Vorsicht ist geblieben, einen Tag vor der Kundgebung in Leipzig bekräftigte Meuthen in einem Welt-Interview, „dass wir das derzeitig dynamische Infektionsgeschehen sehr ernst nehmen müssen“. Nur „einige wenige“ in der AfD hätten kein Einsehen, er sprach von „einzelnen Ausreißern von Leuten, die sich gern exponieren“.

Das wiederum hat die AfD nun wirklich nicht nötig: Sie muss sich in dissozialen Milieus wie jenen, die in Leipzig zusammenströmten, nicht mehr eigens empfehlen, nachdem ihr schon im Frühjahr das Branding als die Anti-Lockdown-Partei und als einziger parlamentarischer Arm der sogenannten Corona-Proteste gelungen ist. Diesen Status muss die AfD auch nicht fürchten, denn alle Anläufe, aus dem Protestspektrum heraus neue Parteien zu formieren, sind durchweg gescheitert – wie zuletzt auch die Idee, anderweitig bei Wahlen zu punkten. So holte Michael Ballweg am Sonntag als Einzelkandidat bei der OBM-Wahl in Stuttgart gerade einmal 2,6 Prozent. Versuche, in Leipzig zu dominieren, sich gar an die Spitze zu setzen, wären der AfD auch mit größten Anstrengungen kaum gelungen. Anders läuft es derzeit in kleineren sächsischen Orten, fernab der Aufmerksamkeit vieler Medien. Deren Fokus auf die Großstadt war der Partei das Risiko nicht wert, andere Wähler*innen abzuschrecken. Die aber braucht man immer noch, wenn man mehr als nur einstellige Ergebnisse einfahren will.