„Habt ihr ’ne Scheibe?“ Polizei nimmt AfD-Abgeordneten Karsten Hilse fest

Die Berliner Polizei legte dem sächsischen AfD-Bundestagsabgeordneten Karsten Hilse Handfesseln an. Der Politiker, der selbst Polizist ist, beklagt sich nun über einen vermeintlichen „Übergriff“, doch offenbar widersetzte er sich einer Kontrolle. Seine Fraktion heizte gestern die Tumulte rings um den Bundestag an – und ließ sogar mehrere Störer ins Gebäude. Beschlossen wurde die Novelle des Infektionsschutzgesetzes trotzdem.


Beitrag vom 19.11.2020, 17:00 Uhr │ Im Bild: Karsten Hilse während der Festnahme.


„Voll das Gesicht in den Asphalt rein“

Weil er sich einer Polizeikontrolle widersetzt hat, ist der aus Sachsen stammende Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse gestern Vormittag am Rande neuerlicher Proteste gegen die Eindämmung der Corona-Pandemie vorübergehend festgenommen worden. Der Vorfall ereignete sich unweit des Brandenburger Tors, Unter den Linden. Dort besteht Mundschutz-Pflicht. Beamt*innen sprachen Hilse an, der keine Maske trug und stattdessen ein „Attest“ vorzeigte, das ihn angeblich von der Pflicht befreit. Da das Dokument keine Diagnose enthielt, wurde es durch die Polizeikräfte nicht anerkannt, sie forderten Hilse auf, sich ausweisen. Dann jedoch, so schildert es der Abgeordnete in einer Pressemitteilung, sei es zu einem „Polizeiübergriff“ gekommen. Man sei „brutal“ und „überzogen hart“ gegen ihn vorgegangen: „Abgeordnete auf das Straßenpflaster zu werfen und ihn in Handschellen abzuführen erinnert an finsterste Zeiten und schädigt das Vertrauen in den Rechtsstaat.“ Und das angeblich nur wegen einer Ordnungswidrigkeit.

Fraktionskolleg*innen und Parteifreunde verbreiteten danach knappe Videoaufzeichnungen. Darauf ist zu sehen ist, wie Hilse zu Boden gerungen, seine Hände auf dem Rücken gefesselt und er anschließend abgeführt wird. Etwas später gab er im Beisein des Abgeordneten Udo Hemmelgarn dem rechten Youtuber Thorsten Schulte ein kurzes Interview. Demnach habe er von der Situation ein Video drehen wollen, „das war denen zu lange, dann gings los“. Man habe ihn geschubst und „zu Boden geworfen, das volle Programm, voll das Gesicht in den Asphalt rein“. Auf ihn sei außerdem eingeschlagen worden. Schulte, unter seinem Pseudonym „Silberjunge“ bekannt, kommt aus Hilses Wahlkreis, aus Bautzen. Erst vor kurzem war er Redner bei Pegida, hat mehrere Bücher im verschwörungsideologischen Kopp-Verlag herausgegeben.

Worüber Hilse mit ihm nicht sprach und was die Videos in AfD-Kanälen nicht zeigen, ist die Vorgeschichte, die durch weitere Aufnahmen dokumentiert ist. Demnach widersetzte sich Hilse augenscheinlich einer Personenkontrolle und schrie Polizist*innen an: „Hey, ich bin Bundestagsabgeordneter, habt ihr ’ne Scheibe, oder was? Ich bin deutscher Bürger!“ Offenbar versuchte er sich zu entreißen, wurde daraufhin weggeführt und erneut aufgefordert, sich auszuweisen. Er habe sich jedoch „unkooperativ“ verhalten, teilte die Berliner Polizei inzwischen mit. Statt den Anweisungen zu folgen, habe er „seinen Begleiter zum Filmen aufgefordert“ und Widerstand geleistet. In dieser Situation wurde er zu Boden gebracht. Um eine Verhaftung, wie mitunter behauptet wird, handelte es sich nicht. Hilse wurde umgehend aus der Maßnahme entlassen, nachdem seine Personalien doch noch notiert werden konnten.

Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen

Um die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit ging es in dem Moment schon nicht mehr, vielmehr wurde eine Strafanzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte aufgenommen. Schläge durch die Polizei, von denen der Abgeordnete spricht, sind nicht zu erkennen. Pikant: Hilse ist von Beruf selbst Polizeibeamter. Und zu der Zeit, als die Kontrolle eskalierte, hätte er im Bundestag sein müssen. Dort traf sich am Vormittag der Umweltausschuss, Hilse ist dort sogar Obmann seiner Fraktion. Er schaffte es am Mittag in den Plenarsaal, als über die Novelle des Infektionsschutzgesetzes debattiert und abgestimmt wurde. Die Vorlage der Koalitionsfraktionen wurde mehrheitlich angenommen, gegen die Stimmen von Linken, FDP und AfD, die ihre Ablehnung ganz unterschiedlich begründeten.

Gleich zu Beginn der Debatte stellte Bernd Baumann, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion, einen Geschäftsordnungsantrag. Sein Ziel: Das Thema von der Tagesordnung nehmen, zurück in die Ausschüsse verweisen, heute nichts abstimmen. Baumann kritisierte, der Gesetzesentwurf sei ohne ausrechende Beratung „durchgepeitscht“ worden. Er sei, sagte er weiter, „eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab“. Wenig später sprach Fraktionschef Alexander Gauland zum Thema, auch er verstieg sich in Superlative: „Das Infektionsschutzgesetz ist die größte Einschränkung der Grundrechte in der Geschichte der Bundesrepublik“. Ihm applaudieren nur die AfD-Abgeordneten, dafür aber sogar im Stehen. Auch den Vorfall mit Hilse sprach Gauland an, mit aufbrausender Stimme: „Wenn Abgeordnete von der Polizei zu Boden geworfen werden, dann darf man fragen: Wo sind wir eigentlich angekommen in diesem Land?“

Die Plenarsitzung hatte pünktlich um 12 Uhr begonnen, sie fand unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen und verschärften Zugangsregeln statt. Übergriffe auf Abgeordnete waren befürchtet worden, zudem Versuche, die Abstimmung zu stören. Im Vorfeld hatten Leugner*innen der Pandemie und Gegner*innen ihrer Eindämmung – neben der „Querdenken“-Bewegung auch Teile der AfD und insbesondere Abgeordnete wie Karsten Hilse – Aufrufe verbreitet, Zugänge zum Parlamentsgebäude zu versperren, um das angebliche „Ermächtigungsgesetz“ zu verhindern. Tatsächlich gelangten Störer*innen ins Parlamentsgebäude, schafften es teils bis zum Zugang des Plenarsaals. Sie belästigten dort Parlamentsmitglieder und Mitarbeiter*innen, filmten sich und ungefragt auch andere. Eine der Aufnahmen zeigt, wie Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) angepöbelt und als „Arschloch“ beschimpft wird.

„Gäste“ von Hemmelgarn, Bystron und Müller

Mehrere Abgeordnete berichteten später darüber, bedrängt worden zu sein, zudem über Versuche, in Büros einzudringen. In das Gebäude schaffte es beispielsweise Thorsten Schulte, der zuvor Hilse interviewt hatte, sowie der Dresdner Youtuber Elijah Tabere. Dieser streamte live, unter anderem aus dem Büro von Udo Hemmelgarn, der zuvor ebenfalls an Hilses Seite gewesen war. Der Verdacht, dass Mitglieder der AfD-Fraktion solchen Personen Zutritt verschafften, wurde zunächst zurückgewiesen. Hemmelgarn bestritt gar, die beiden Männer in seinem Büro zu kennen, die später im sechsten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses durch die Bundestagspolizei aufgegriffen wurden. Darüber gäbe es „keinerlei Erkenntnisse“, behauptete auch Bernd Baumann. Inzwischen steht jedoch fest, dass mindestens drei AfD-Abgeordnete jene Personen über Gästelisten angemeldet hatten, die dann durch Störungen auffielen.

Neben Hemmelgarn waren dafür Hansjörg Müller und Petr Bystron verantwortlich. Beide machten gestern auch von sich selbst reden: Müller trat vor der Abstimmung als Redner unter Corona-Leugner*innen auf, beschimpfte Abgeordnete dabei in antisemitischem Duktus als „Marionetten des Finanzkapitals“. Bystron, der sich ebenfalls am Rande des Protests blicken ließ, nannte gegenüber Medien angebliche Parallelen zum Jahr 1933 „einen guten Vergleich“, denn „auch da haben viele die Gefahr unterschätzt.“ Er hält es für „legitim und statthaft“, wenn die Maskenpflicht mit der Verfolgung von Jüdinnen und Juden gleichgesetzt wird: „Das ist der Anfang. Berufsverbote werden folgen. Sie werden keine KZs mehr einrichten, aber die Blaupause ist die gleiche.“

Es war wiederum die AfD, die den Protest direkt in den Plenarsaal trug. Als Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ans Rednerpult schritt, holten die rechten Abgeordneten unter ihren Stühlen vorbereitete Plakate hervor, hielten sie hoch oder stellten sie auf leere Stühle, dafür gedacht, Abstände einzuhalten. Zu sehen war die Aufschrift „Grundgesetz“ – samt schwarzem Trauerflor und dem Datum „18.11.2020“. Solche Aktionen sind allerdings unzulässig. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) griff ein und forderte, dass die Plakate „unverzüglich“ entfernt werden. Nach einer Minute kehrte wieder Ruhe ein.

Konsequenzen angekündigt

Vor dem Parlament gelang das nicht. Ein ganzes Dutzend Kundgebungen, die ursprünglich im sogenannten befriedeten Bezirk stattfinden sollten, wurden zwar verboten. Doch in Sichtweite, rings um das Brandenburger Tor, sammelten sich nach Polizeiangaben seit dem Vormittag zwischen 5.000 bis 10.000 Personen, unter ihnen auch Landespolitiker*innen der AfD. Aus Sachsen etwa war der Landtagsabgeordnete Jörg Dornau gekommen. Ein Polizei-Großaufgebot musste mehrere Durchbruchsversuche ins Regierungsviertel unterbinden, ab dem frühen Nachmittag wurden Wasserwerfer eingesetzt. Nicht durch einen frontalen Beschuss, sondern mittels Sprühregen sollten Demonstrierende dazu gebracht werden, abzudrehen.

Sie hatten zuvor Abstandsregeln missachtet und die Maskenpflicht gebrochen, viele widersetzten sich der Auflösung. Dabei wurden unter anderem Flaschen und Pyrotechnik auf die Polizei geworfen, zudem mehrere Journalist*innen bedrängt, ein inzwischen gewohntes Bild im „Querdenken“-Spektrum. Auch Neonazis waren augenscheinlich in größerer Zahl vor Ort. Die Auseinandersetzungen zogen sich über den ganzen Tag hin, noch am Abend demonstrierten mehrere hundert Menschen vor dem Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD). Er unterzeichnete die zuvor im Bundestag beschlossene Gesetzesnovelle, nachdem auch der Bundesrat zugestimmt hatte. Mehr als 360 Festnahmen verzeichnete die Polizei unter Strich – inklusive Hilse, der sich als Direktkandidat bereits warmläuft, im kommenden Jahr erneut in den Bundestag einzuziehen.

Was sich gestern innerhalb des Parlamentsgebäudes abspielte, wird wohl nicht folgenlos bleiben. Zur Stunde berät sich der Ältestenrat des Parlaments, geprüft werden Verstöße gegen die Hausordnung, verschiedene Ordnungswidrigkeiten und möglicherweise auch Straftaten. SPD und Union wollen schon morgen öffentlich über die Vorfälle debattieren, in einer Aktuellen Stunde im Plenarsaal.