Endstation Verfassungsschutz

Die Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz rückt näher. Bereits in wenigen Tagen soll offiziell bekannt werden, was lange zu vermuten war – die gesamte AfD kommt als rechtsextremistischer Verdachtsfall unter Beobachtung. Versuche, diesen Schritt noch abzuwenden, hat die Partei selbst untergraben.

 


Beitrag vom 20.01.2021, 16:30 Uhr │


Entscheidung vermutlich nächste Woche

In Behördenkreisen geht ein Witz seit Wochen um. Fragt man, wie viel Material über die AfD inzwischen vorliegt, nennt man keine Seitenzahlen, Diskretion muss sein. Man wiegt den Datenberg stattdessen in Kilogramm. Die Angaben schwanken zwar, doch das ganze Thema, so sagt man ohne Augenzwinkern, nimmt buchstäblich zu. Jetzt hat es eine kritische Masse erreicht: Voraussichtlich in der kommenden Woche wird das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die gesamte Partei als rechtsextremistischen Verdachtsfall einstufen. Das berichteten am Dienstagnachmittag zuerst das Redaktionsnetzwerk Deutschland und die FAZ, weiteren Medien wurde das bestätigt. Bislang werden die Landesverbände in Thüringen, Brandenburg und Sachsen als Verdachtsfälle behandelt.

Der nahenden Entscheidung liegen Unterlagen zugrunde, die das BfV und die Verfassungsschutzbehörden der Länder seit Anfang 2019 zusammengetragen haben. Damals war die AfD als Ganzes zum sogenannten Prüffall erklärt worden. Schon im Herbst vergangenen Jahres addierten sich die Belege, die fast ausschließlich aus offenen Quellen stammen und beim Bundesamt in Köln zentral gesammelt werden, auf rund 3.000 Seiten. Zu der Zeit hieß es schon, dass die Sache entscheidungsreif sei. Das bekräftigte BfV-Präsident Thomas Haldenwang nochmals bei der Innenministerkonferenz im Dezember. Seine Behörde hat in der Zwischenzeit ein tausendseitiges Gutachten zusammengestellt, das unter Verschluss gehalten wird. Es führt dem Vernehmen nach hunderte Äußerungen aus faktisch allen Gliederungen der AfD an, die zentralen Verfassungsgrundsätzen widersprechen.

Derzeit prüfen Jurist*innen des Bundesinnenministeriums das Dossier, das vor Gerichten standhalten muss. Es geht offenbar nur noch um Formfragen: Innenminister Horst Seehofer (CSU) trägt die Entscheidung grundsätzlich mit. Auch das Einvernehmen mit den Ländern wurde schon erzielt, dem Vorstoß des Bundes wird man flächendeckend folgen. Die Landesämter haben für die künftige Beobachtung sämtlicher AfD-Verbände bereits Personal abgestellt, teils wurden eigene Referate eingerichtet. Für den Anfang der kommenden Woche ist eine „ALT“ anberaumt, eine Amtsleitertagung. Im Anschluss wird eine Pressekonferenz mit Haldenwang erwartet. Seine Behörde bestätigt das bisher nicht, „derzeit liegen keine aktuellen Pressetermine vor“, teilt das Innenministerium mit. Doch das mag sich schnell ändern.

Flügel-Einfluss weiter gestiegen

Wesentlicher Grund für das bald abermals verschärfte Vorgehen ist nicht allein, aber vor allem der wachsende Einfluss der völkisch-nationalistischen Kräfte. Zwar hat der Bundesvorstand die Auflösung des radikalen „Flügel“-Netzwerks um Björn Höcke angeordnet, nachdem es im März 2020 als „erwiesen rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft und dadurch zur Last wurde. Doch namhafte Vertreter*innen dieser Strömung weckten absichtlich Zweifel an einer wirklichen Auflösung, lange vermied es Höcke sogar, dieses Wort zu verwenden. Seine Stellung als thüringischer Landes- und Fraktionschef blieb unangetastet. Gehen mussten zwei wichtige Gefolgsleute, der Neonazi Andreas Kalbitz und der Antisemit Frank Pasemann, beide aber vorrangig aus anderen Gründen. Der eine hatte beim Parteieintritt falsche Angaben gemacht, der andere Abgaben einbehalten und eine Widerspruchsfrist versäumt.

Doch selbst von diesen beiden Männern hat man sich nicht endgültig getrennt. Pasemann ist in Magdeburg Direktkandidat der AfD für die kommende Bundestagswahl, Kalbitz weiterhin Mitglied der brandenburgischen Landtagsfraktion. Seine Funktion als Fraktionsvorsitzender verlor er in Folge der Milzriss-Affäre, Nachfolger Christoph Berndt gilt ebenfalls als Rechtsextremist, seine Einsetzung hat Kalbitz gebilligt. Dessen angestammten Platz an der Spitze der Landespartei hält man ihm warm, er wurde seit Monaten nicht neu besetzt. Insbesondere die ostdeutschen Verbände haben sich ausdrücklich mit Kalbitz solidarisiert, der weiterhin versucht, eine Rückkehr in die AfD – und in den Bundesvorstand – zu erzwingen. Bereits an diesem Freitag wird das Berliner Kammergericht seine Berufung gegen eine Entscheidung des Landgerichts verhandeln, mit der die Annullierung der Mitgliedschaft im Eilverfahren bestätigt worden war.

Flügel-Leute haben zuletzt den niedersächsischen Landesverband übernommen und ihre Macht etwa im Vorstand der sachsen-anhaltischen Landespartei ausgebaut. Der Flügel, folgert man beim BfV, ist keineswegs marginalisiert, auch wenn man den gemeinsamen Namen nicht mehr verwendet. Das zeigt der verbissene Machtkampf, der die Entwicklung der Partei das vergangene Jahr hindurch geprägt hat. Zuletzt demonstrierte der Bundesparteitag im nordrhein-westfälischen Kalkar, wie zerrissen die AfD ist: Jörg Meuthen, einer der beiden Vorsitzenden, rief dort die „Provokateure“ in den eigenen Reihen zur Mäßigung auf, sonst könne die Partei als Ganzes scheitern. Fast die Hälfte der Delegierten wollte ihn dafür maßregeln, nach einer lautstarken Redeschlacht scheiterte ganz knapp der Versuch, Meuthen öffentlich zu demontieren. Leute wie Höcke mussten dafür nicht einmal selbst das Wort ergreifen.

Taktische Ausflüchte

Die kommende Einstufung gibt Meuthens Warnungen recht. Einen vorerst letzten Versuch, die Beobachtung doch noch abzuwenden, hat es an diesem Montag gegeben, Spitzenfunktionär*innen aus Bundespartei und allen Landesverbänden haben sich auf eine gemeinsame „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ geeinigt. Kernaussage darin: Zum Staatsvolk gehört, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, „unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand hat“. Das ist eine deutliche Entgegnung auf einen zentralen Vorwurf, den auch das BfV erhebt: dass die AfD einen ethnischen Volksbegriff vertritt, der mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist; der „Fremde“ mitunter in rassistischer Absicht ausschließt und damit gegen das Verfassungsprinzip der Menschenwürde verstößt.

Einfluss auf die Entscheidung des BfV wird diese überraschende Wendung voraussichtlich nicht haben, zu nah liegt der Verdacht, dass es sich um eine taktisch motivierte Formulierung handelt, die sich in der Politik der Partei kaum widerspiegelt. Es ist ein einzelnes Statement neben sehr vielen anderen, die in eine andere Richtung weisen, von der man nach wie vor nicht ablassen mag. Das zeigt aktuell die sächsische AfD. Deren Landesvorsitzender Jörg Urban hat die Erklärung zwar unterzeichnet, ebenso der aus Sachsen stammende Tino Chrupalla, Co-Bundeschef neben Meuthen.

Doch als man einen Tag danach auf der Facebookseite der Sachsen-AfD auf die Erklärung hinwies, hatte man sie schon völlig entstellt. Von der Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes ist dort keine Rede, als „elementare Punkte“ stellt man andere Passagen in den Vordergrund, etwa: „Ohne nationale Identität keine Demokratie!“ Das habe man am „geschichtsträchtigen 18. Januar“ veröffentlicht, heißt es auch. An diesem Tag im Jahr 1871 war Wilhelm I. zum Kaiser des Deutschen Reiches proklamiert worden, zum Oberhaupt eines undemokratischen und antirepublikanischen Obrigkeitsstaats.

Klagen in Vorbereitung

Die nächsten Schritte hat die Partei vorbereitet. Sie wird gegen eine Einstufung zeitnah klagen und voraussichtlich mit einem Eilantrag vor das Verwaltungsgericht in Köln ziehen, wo das BfV ansässig ist. Dabei könnten die Gründe der Beobachtung eine nachgeordnete Rolle spielen, die AfD macht ein anderes Argument stark: Im gerade angebrochenen Superwahljahr – neben dem Bundestag werden 2021 auch sechs Landesparlamente gewählt – öffentlich über einen Verdacht zu informieren sei ein unzulässiger Eingriff in den Parteienwettbewerb. Schon seit Monaten verbreitet die AfD, der Verfassungsschutz werde „instrumentalisiert“, um einer Oppositionspartei zu schaden.

Teile der AfD sind allerdings aufgeschlossen, damit in den anstehenden Wahlkämpfen zu hausieren, sich so immer wieder selbst zum Thema machen. Auch eine konzertierte juristische Gegenwehr ist eingepreist, für den Rechtskampf wurden erhebliche Mittel im Haushalt der Partei zurückgestellt. Mit Billigung des Bundesverbands und nach ausführlicher Beratung im Konvent geht jetzt bereits der brandenburgische AfD gerichtlich gegen eine Entscheidung des dortigen Innenministeriums aus dem vergangenen Juni vor, den Landesverband zum Verdachtsfall hochzustufen. Am Verwaltungsgericht Potsdam und parallel am Landesverfassungsgericht will die Partei erreichen, dass sie in dem Bundesland weder beobachtet, noch über eine Beobachtung öffentlich berichtet werden darf.

Am Dienstag wurden die Klageschriften eingereicht, die nahende Entscheidung des BfV war da noch nicht bekannt. Prozessbevollmächtigter ist der Jurist Michael Elicker, der für die sächsische AfD-Fraktion tätig ist. Sollte es in Brandenburg Fortschritte geben, wollen weitere Landesverbände einen ähnlichen Weg gehen, heißt es aus Parteikreisen. Man gibt sich dort betont gelassen — noch. Bereits Ende März soll wieder ein großer Bundesparteitag stattfinden, ein Programm zur Bundestagswahl will man beschließen. Doch das Thema Verfassungsschutz könnte bald alles überschatten.