Gestern lief die Frist aus, die der AfD-Bundesvorstand gesetzt hat, um den verfassungsfeindlichen Flügel aufzulösen. In der Parteispitze glaubt man, dass das wirklich passiert sei. Doch es gibt etliche Anzeichen für das Gegenteil. Auch aus den Kreisen der sächsischen Landespartei häufen sich die Signale, dass es weitergeht – vielleicht unter einem neuen Namen.
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Der völkisch-nationalistische Flügel in der AfD hat sich offiziell aufgelöst. Die Website der Strömung um den thüringischen Parteichef Björn Höcke und seinen brandenburgischen Kollegen Andreas Kalbitz ist bereits seit Donnerstagmorgen nicht mehr erreichbar. Am frühen Abend verschwand das Facebook-Profil, in der Nacht zum 1. Mai auch der Youtube-Kanal. Damit fügen sich die Verantwortlichen anscheinend einer Entscheidung des Bundesvorstands der Partei. Dieser hatte am 20. März mehrheitlich beschlossen, dass sich die verfassungsfeindliche Strömung bis Ende April auflösen muss.
Skepsis an der Spitze
Die Parteispitze hatte mit diesem Schritt auf die Einstufung des Flügels als Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden reagiert. Der Beschluss gilt auch als ein Versuch, durch eine demonstrative Abgrenzung zum rechten Rand die drohende Beobachtung der Gesamtpartei abzuwenden — darüber will das Bundesamt für Verfassungsschutz noch in diesem Jahr befinden. Es hatte zuletzt einen wachsenden Einfluss des Flügels registriert und das Führungsduo Höcke und Kalbitz öffentlich als „Rechtsextremisten“ bezeichnet. Die AfD fürchtet dieses Stigma.
Gestern gab sich der Vorstand, dem Kalbitz als Beisitzer angehört, zunächst zuversichtlich: Der Flügel sei dem Beschluss „offenbar gefolgt und hat sich aufgelöst“, sagte ein Sprecher auf Anfrage der parteinahen Wochenzeitung Junge Freiheit. Allerdings scheinen Zweifel zu bleiben. Am kommenden Montag soll daher ein Vorstandsmitglied mit einer Art Nachkontrolle beauftragt werden, Mitte Mai will das Führungsgremium dann „über den Vollzug der Auflösung beraten“. Ursprünglich war die Auflösung aller Strukturen des Flügels verlangt worden. Aus dessen Richtung hieß es bis zuletzt aber, dass man über keine Strukturen verfüge.
In einem ergänzenden Beschluss war zwischenzeitlich unter anderem festgelegt worden, dass die Bezeichnung „Flügel“ und das Logo der Vereinigung nicht mehr verwendet werden dürfen. Auch Veranstaltungen unter diesem Namen, etwa die jährlichen Kyffhäuser-Treffen, soll es nicht mehr geben. Höcke muss außerdem auf die Rechte an der Marke „Der Flügel“ verzichten, die er beim Deutschen Patent- und Markenamt eintragen ließ. Dort ist er aber aktuell noch immer als Markeninhaber verzeichnet. Auch der Vorfeldverein „Konservativ! e.V.“, der genutzt wurde, um Spenden und mutmaßlich auch regelrechte Mitgliedsbeiträge zu erheben, wurde bislang nicht aufgelöst.
Distanzierungen bleiben aus
Unklar ist darüber hinaus, ob die sogenannten Obleute, die den Flügel in einzelnen Bundesländern vertreten, ihre Stellung verloren haben. Für Sachsen war das bisher der Bundestagsabgeordnete Jens Maier. In einem Interview ließ er vor gut einem Monat noch deutliche Zweifel an einer Auflösung. Stattdessen sprach er davon, dass man sich „neu sortieren“ werde. Auch Höcke und Kalbitz wählten konsequent andere Begriffe, sprachen von einer „Zurücknahme“ oder „Historisierung“ ihrer Gruppe. Von einer „Auflösung“ war bis zuletzt nur in Anführungsstrichen die Rede. Dazu kommt, dass sich die bisher maßgeblichen Anhänger*innen der Strömung nicht distanziert haben.
Zu ihnen gehören Jörg Urban und Jan Zwerg, die vor fünf Jahren frühe Unterzeichner der Erfurter Resolution waren, des Gründungsmanifests des Flügels. Inzwischen stehen Urban und Zwerg an der Spitze der sächsischen Landespartei und der Dresdner Landtagsfraktion. In einem Schreiben haben beide kürzlich noch einmal ihre Loyalität gegenüber Höcke und Kalbitz bekräftigt. Aus Kreisen der sächsischen AfD wurde in der vergangenen Woche die Dresdner Erklärung lanciert, die in der Tradition des Flügels steht und die durch den Parteivorsitzenden Tino Chrupalla, aber unter anderem auch durch Kalbitz unterzeichnet wurde.
Dieser steht derzeit unter Druck, der Bundesvorstand verlangt von ihm detaillierte Auskünfte über seine frühere Mitwirkung an mehreren Neonazi-Organisationen und die Teilnahme an entsprechenden Szeneveranstaltungen. Gegenüber Höcke wurde neulich eine Missbilligung ausgesprochen, weil er gefordert hatte, dass parteiinterne Kritiker*innen „ausgeschwitz“ werden müssten. Darüber hinaus beabsichtigt die Partei aber keine personellen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Flügel-Abwicklung.
Beobachtung wird fortgesetzt
Personeller Konsequenzen hätte es bedurft, um sich glaubwürdig vom Flügel abzugrenzen, erklärte gestern Stephan Kramer, der Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. Die vorgebliche Auflösung bezeichnete er als eine „taktische Nebelkerze“. Ähnlich äußerte sich mit Jörg Müller sein brandenburgischer Amtskollege, er sprach von einer „Scheinauflösung“ und wies darauf hin, dass die Führungspersonen unverändert einen „erheblichen Einfluss auf den Kurs der AfD“ ausüben. Auch der sächsische Verfassungsschutz hält an der Flügel-Beobachtung fest. Auf die Bezeichnung dieser Strömung kommt es dafür nicht an.
In den vergangenen Wochen lieferte die AfD selbst immer wieder Hinweise darauf, dass nur der Name, nicht aber die Strömung selbst verschwinden wird. „Der Flügel lebt“, hieß es etwa auf dem Facebook-Profil des sächsischen Landtagsabgeordneten Jörg Dornau, kurz nachdem der Auflösungsbeschluss ergangen war. Dornau gehört dem Kreisverband im Landkreis Leipzig an. Bei Facebook bewarb der Verband vor wenigen Tagen „das letzte ‚offizielle‘ Flügeltreffen im Landkreis Leipzig“ – und wirft damit Fragen nach künftigen inoffiziellen Treffen auf. Als Einstiegsbild nutzt der Verband seit gestern eine Grafik, die Höcke und Kalbitz an der Seite des sächsischen AfD-Chefs Jörg Urban zeigt. Dasselbe Bild schmückte bisher das nunmehr abgeschaltete Flügel-Profil.
Höcke selbst veröffentlichte am vergangenen Sonnabend einen Abschiedstext und ein inhaltlich weitgehend übereinstimmendes Video, in dem er fast sechs Minuten lang Bildaufnahmen kommentiert, die hauptsächlich ihn selbst bei Flügel-Veranstaltungen zeigen. Er schlägt dabei einen pathetischem Ton voller Sprachformeln an, die er haargenau so schon in früheren Reden verwendet hat. Den Flügel bezeichnet er als eine „einzigartige Erfolgsgeschichte“, seine Gruppe habe „Parteigeschichte geschrieben“. Auch jetzt ist von einer Auflösung nicht die Rede, stattdessen von einer anstehenden „Einstellung“ und „Beendigung“ der Aktivitäten. Dieser Schritt sei „das ultimative Zeichen, das wir am Ende noch setzen konnten, um unseren Willen zur Einheit der Partei zu untermauern.“ Es gehe jetzt darum, „partikulare Interessen zurückzustellen“.
Höcke spricht von „Neuanfang“
Um das Zurückstellen, nicht aber ums Aufgeben geht es also. Höcke unterschlägt zudem den nicht unwesentlichen Umstand, dass die Flügel-Abwicklung weder seine Idee, noch ein freiwilliger Schritt ist. Dennoch suggeriert er, es handle sich um seine eigene Entscheidung, nachdem er zu dem Schluss gelangt sei, dass der Flügel für den künftigen Erfolg der Partei eher „hinderlich“ wurde – obwohl man doch nicht viel mehr getan habe, als einige „Kundgebungen und Feste“ abzuhalten, angetrieben von einem „humanen Patriotismus“. Dass er eine „Partei in der Partei“ gebildet habe, stimme nicht, sagt Höcke nun. Damit weist er nebenher Erkenntnisse zurück, die der Verfassungsschutz bisher gewinnen konnte und für die man auch im Bundesvorstand ernstzunehmende Anhaltspunkte kennt.
Zum Schluss gibt Höcke einen Ausblick auf die Zukunft, der wieder den Eindruck nährt, dass der Flügel außer seinem Namen nicht viel einbüßen wird. „Jedes Ende bedeutet auch einen Neuanfang“, heißt es. Die Ideen der Erfurter Resolution „bleiben ein wichtiger Kompaß für das sichere Navigieren der AfD“, es gelte nun, „den Geist des Flügels (…) weiterzutragen“. Die Frage ist nur, wohin. Zunächst wird der Weg in die Verfassungsschutzberichte führen: Das bayrische Landesamt berichtet in seinem neuen Jahresbericht erstmals über Parteistrukturen. Weitere Landesämter werden folgen.