AfD-Bundesvorstand fordert die Auflösung des Flügels

Die Entscheidung war unerwartet deutlich: Gestern hat die Parteispitze den verfassungsfeindlichen Flügel aufgefordert, sich aufzulösen. Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla und der Schatzmeister Carsten Hütter, die beiden Sachsen im Bundesvorstand, tragen die Forderung mit. Werden Höcke und Co. gehorchen?

Ab 11 Uhr hat am gestrigen Freitag der AfD-Bundesvorstand in der Berliner Geschäftsstelle getagt, die Sitzung war mit Spannung erwartet worden. Hauptpunkt sollte der Umgang mit der Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) sein, den völkisch-nationalistischen Flügel zum Beobachtungsobjekt und führende Mitglieder wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz zu „Rechtsextremisten“ zu erklären. Als das in der vergangenen Woche bekannt wurde, gab es zunächst keine gemeinsame Stellungnahme der Parteispitze. Jetzt schreitet sie zum ersten Mal deutlich gegen den Flügel ein.

Auflösen oder „zurückbauen“?

Zu entscheiden war, was mit dem Flügel geschehen soll, der mehrere Landesverbände der Partei dominiert und der ihr immer mehr zur Last fällt. Ohne eine effektive Abgrenzung, so viel ist klar, droht der gesamten Partei eine Verfassungsschutz-Beobachtung. Mehrere Stunden dauerten die Verhandlungen. Jörg Meuthen, einer der beiden Parteichefs, hatte in den vergangenen Tagen geschwiegen. Die Sitzung eröffnete er nun mit der Maximalforderung, dass sich der Flügel bis zum Ende des Monats auflösen muss. Damit stand er nicht alleine da, die stellvertretende Bundessprecherin Beatrix von Storch und der Beisitzer Alexander Wolf, der auch Fraktionsvorsitzender in der Hamburgischen Bürgerschaft ist, schlossen sich an.

Stephan Brandner, ein Flügel-Mann aus Thüringen, hielt dagegen. Auch andere Vorstandsmitglieder meldeten Bedenken an, unter anderem, weil ein allzu brachiales Vorgehen die bei Wahlen besonders erfolgreichen ostdeutschen Verbände verschrecken könnten. So jedenfalls sahen es der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, Alice Weidel und auch Tino Chrupalla, der zweite Parteichef neben Meuthen. Er soll davor gewarnt haben, „Tabula rasa“ zu machen und dadurch auch zahlreichen Flügel-Mitgliedern, deren Zahl in die Tausende geht, vor den Kopf zu stoßen.

Gemeinsam mit Weidel formulierte Chrupalla einen anderen Vorschlag. Er sah vor, dass der Flügel aufgefordert wird, „die vorhandenen Strukturen zurückzubauen“ und dafür einen konkreten Zeit- und Maßnahmenplan vorzulegen. Brandner soll bereit gewesen sein, diese abgeschwächte Lösung zu unterstützen. Strittig war, wie stark der Flügel unter Druck gesetzt werden muss: Soll er ganz verschwinden oder sich nur zurücknehmen? Soll das sofort passieren oder irgendwann in der Zukunft? Und schließlich: Soll der Bundesvorstand selbst etwas anordnen oder, wesentlich sanfter, eine Bitte formulieren?

Selbst Flügel-Leute stimmen gegen den Flügel

Am Ende fasste das Gremium mit elf Ja-Stimmen fast einmütig den Beschluss, „dass sich der informelle Zusammenschluss ,Flügel‘ bis zum 30.04.2020 auflöst“. Es handelt sich um eine „Erwartung“ mit erweitertem Zeitrahmen, ein Kompromiss zwischen den beiden anderen Varianten. Die konkrete Formulierung soll übereinstimmenden Medienberichten zufolge Chrupalla gemeinsam mit dem Bundesschatzmeister Carsten Hütter entworfen haben. Das ist eine Überraschung, denn beide kommen aus dem Landesverband Sachsen, wo der Flügel besonders stark ist. Hütter gehört dieser Strömung aber nicht an.

Dem neuen Vorschlag schlossen sich unter anderem Meuthen und Storch an, außerdem Alice Weidel, die sich in der Vergangenheit mit dem Flügel arrangiert hatte. Bei der Abstimmung gab es für den gemeinsamen Vorschlag dann eine satte Mehrheit. Zu ihr gehörte auch Stephan Protschka aus Bayern, der selbst ein Flügel-Mann ist. Brandner enthielt sich. Die einzige Gegenstimme kam, was zu erwarten war, von Andreas Kalbitz.

Mit der Entscheidung hat der Bundesvorstand den Ball zurück an den Flügel gespielt, dessen „Obleute“ – in Sachsen ist das der Bundestagsabgeordnete Jens Maier – sich heute Abend zu einem internen Treffen in Sachsen-Anhalt versammeln.* Sie haben nun eine Art Gnadenfrist erhalten, die genügend Zeit lässt für eine gesichtswahrende Umsetzung des Beschlusses – falls sie ihm folgen, was keinesfalls ausgemacht ist. Die Frage ist, ob sich der Flügel wirklich selbst stutzen oder nur mausern wird. In der Vergangenheit war aus Flügel-Kreisen immer wieder betont worden, dass man keinen Anlass sehe, sich zu mäßigen oder die eigenen Aktivitäten zurückzufahren. Das Gegenteil war der Fall, längst ist eine „Partei in der Partei“ entstanden.

Gewachsener Unmut über den Flügel

Insbesondere hatte sich der Flügel einen immer größer werdenden Einfluss im Bundesvorstand gesichert. Mehrere Spitzenfunktionär*innen sind aufgrund von Absprachen mit dem Flügel in ihre Positionen gelangt und haben ihn im Gegenzug wiederholt in Schutz genommen. Das gilt auch für den Parteivorsitzenden Chrupalla. Er hatte jedoch zuletzt, nach den rassistischen Mordanschlägen in Hanau, zu einer „Selbstreflexion“ innerhalb der AfD und zu einer Abgrenzung von rassistischen Positionen aufgerufen. Im Flügel-dominierten sächsischen Landesverband stieß das nicht auf Gegenliebe.

Im Vorfeld der gestrigen Sitzung hatte der Flügel versucht, Einfluss auf Vorstandsmitglieder zu nehmen, unter anderem mit dem Argument, dass ein Aus der Strömung zugleich die Erfolgsgeschichte der Partei beenden werde. Aus mehreren westdeutschen Landesverbänden wurde die gegenteilige Annahme ins Feld geführt, wonach der Flügel Wähler*innen abschrecke und auf diese Weise der Partei schade. Die gestiegene Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes sieht man dort als ein Damoklesschwert, das alle Hoffnungen bedroht, irgendwann an einer Regierung beteiligt zu werden.

In den vergangenen Tagen hatten Medienberichte den Unmut über den Flügel und dessen Anführer noch verstärkt. So forderte Höcke Anfang des Monats bei einer internen Flügel-Veranstaltung, dass innerparteiliche Kritiker*innen „allmählich auch mal ausgeschwitz werden sollten“. Die Worte waren ein schwerer taktischer Fehler Höckes, der sich seit dem Kemmerich-Manöver in Thüringen als ein Meisterstratege zu präsentieren versuchte. Zudem wurden neue Details über Kalbitz‘ jahrzehntelanges Vorleben in der rechten Szene publik. Er soll er Mitglied in der neonazistischen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) gewesen sein, die 2009 verboten wurde. Das behauptet jedenfalls das BfV.

Keine personellen Konsequenzen

Wegen des Verdachts, dass Kalbitz dazu auch innerhalb der Partei falsche Angaben gemacht hat, stand sogar ein Parteiausschluss im Raum. In der gestrigen Sitzung bestritt Kalbitz abermals eine HDJ-Mitgliedschaft. Der Vorstand forderte ihn daraufhin auf, juristisch gegen die Behauptung des BfV vorzugehen. Zudem wurde ihm nahegelegt, beim Vorstand eine eidesstattliche Versicherung zu hinterlegen – dann hätte er sich unkorrigierbar festgelegt. Offenbar sieht man jetzt die Beweislast, kein HDJ-Mitglied gewesen zu sein, bei ihm.

Unabhängig davon will der Bundesvorstand durch eine Klage erzwingen, dass das BfV das bisher unter Verschluss gehaltene Material herausrückt, auf das sich die Behörde bei der Entscheidung stützt, den Flügel mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu überwachen. Das Problem des Parteivorstands: Etliche Vorwürfe gegen den Flügel wie auch die Behauptung, dass Kalbitz HDJ-Mitglied gewesen sei, kennt man bisher nur aus zweiter Hand, noch dazu aus eher verhassten Medien. Das entscheidende BfV-Dossier liegt bisher nur zwei Zeitungen vor.

Auch Höcke, Gründer und Anführer des Flügels, hat keine Ordnungsmaßnahmen zu befürchten, jedenfalls nicht im Moment. Bei der nächsten Vorstandssitzung, die am 17. April stattfinden wird, soll er aber persönlich erscheinen, um Rede und Antwort zu stehen. Bis dahin wird klar sein, ob er dem Beschluss folgt, den Flügel abzuwickeln. „Wer sich dagegen wehrt, der muss mit Parteiordnungsmaßnahmen rechnen“, sagte Georg Pazderski, zuletzt einer der lautesten Höcke-Gegenspieler, gestern dem Magazin Cicero.

Keine inhaltliche Abgrenzung

Mit dem gestrigen Beschluss geht der AfD-Bundesvorstand deutlich wie nie zuvor gegen den rechten Rand der eigenen Partei vor. Den Schritt sieht man an der Spitze als zwingend an. Er hat weniger davon zu tun, was man vom Flügel inhaltlich hält, eine Abgrenzung von einschlägigen Positionen wurde denn auch nicht vorgenommen. Vielmehr geht es darum, nachvollziehbar zu dokumentieren, dass man gegen verfassungsfeindliche Strömungen einschreitet. Die Hoffnung ist, damit dem nächsten logischen Schritt des Verfassungsschutzes zu entgehen – er könnte die gesamte Partei unter Beobachtung stellen.

Allerdings lässt der Vorstandsbeschluss viele Fragen offen. Der Flügel beharrt bislang darauf, gar keine Organisation zu sein, die Rede ist von einer losen Werte- oder auch „Gesinnungsgemeinschaft“. Demnach wäre da wenig, was sich auflösen könnte. Die bisher tonangebenden Personen wie auch ihre Gefolgschaft, die in die Tausende geht, werden wohl in der Partei verbleiben – nur die gemeinsame Selbstbezeichnung, auf die es im Grunde nicht ankommt, fiele künftig weg.

Und selbst wenn der Flügel spurlos verschwände, wäre die Verfassungsschutz-Beobachtung nicht automatisch vom Tisch. Die Auflösung wäre zunächst nur eine Behauptung, womöglich ein taktisches Manöver, eine kosmetische Korrektur, ohne dass der „Personenzusammenschluss“ – das für den Verfassungsschutz entscheidende Kriterium – verloren geht. Ohne den Flügel als Sammelbezeichnung und ohne messbare inhaltliche Mäßigung könnte sich der für die AfD fatale Außeneindruck sogar noch verstärken, dass die Höcke-Strömung und die Gesamt-AfD eigentlich eins sind.

Antisemit Gedeon ausgeschlossen

Die Flügel-kritischen Parteiteile wirkten in der Vergangenheit kraftlos und desorganisiert. Unmittelbar vor Beginn der Vorstandssitzung erhielten sie aber durch zwei neue Meldungen Auftrieb. So machte Meuthen ein Urteil des Bundesschiedsgerichts öffentlich. Es hat am vergangenen Dienstag beschlossen, nach jahrelangem Ringen den Antisemiten Wolfgang Gedeon aus der Partei auszuschließen.

Zwei Vorinstanzen hatten diesen Schritt abgelehnt. Das oberste Parteigericht stellte nunmehr fest, dass bei Gedeon „gefährliche Parallelen gegenüber der Argumentation der Nationalsozialisten“ vorliegen, die der Partei schaden. Der 72-Jährige, der sich selbst als „Antizionist“ bezeichnet, war für die AfD in den baden-württembergischen Landtag eingezogen. Der dortigen AfD-Fraktion, die sich unter anderem wegen ihm vorübergehend gespalten hatte, gehört er schon seit 2016 nicht mehr an.

Gedeon kündigte inzwischen an, die Entscheidung vor einem staatlichen Gericht anzufechten. Doch erst einmal ist er draußen – für den Vorstand ein wichtiger Fingerzeig, dass man Problemfälle loswerden kann, wenn man will. In der Vergangenheit waren mehrere Anläufe, Höcke aus der Partei auszuschließen, gescheitert.

„Schwarze Kasse“ beim Flügel?

Höckes Flügel soll außerdem, wie gestern durch einen Spiegel-Bericht bekannt wurde, eine regelrechte schwarze Kasse betrieben haben, über die Spendenzahlungen abgewickelt wurden. Dafür soll ein Konto des AfD-Bundestagsabgeordneten Frank Pasemann genutzt worden sein, auf das der Zoll bei Ermittlungen zu einem Geldwäsche-Verdachtsfall aufmerksam geworden war. Demnach gab es von Juni 2018 bis August 2019 insgesamt 69 Kontobewegungen, allesamt Einzahlungen, die erkennbar als Spenden für den Flügel gedacht waren und die teils von bekannten AfD-Politiker*innen stammen. Aber auch der neurechte Publizist Götz Kubitschek soll Geld zugeschossen haben.

Was aufhorchen lässt: Bei einigen der Einzahlungen sollen im Verwendungszweck auch Mitgliedsnummern angegeben worden sein, obwohl der Flügel vehement bestreitet, über irgendwelche Mitglieder zu verfügen. Gegenüber dem Spiegel bestreitet zudem Pasemann, dass über sein Konto Zahlungen abgewickelt wurden, die etwas mit dem Flügel zu tun haben. Vielmehr handle es sich um Gelder für einen „parteiunabhängigen Verein“ namens „Konservativ!“. Pasemanns Bankverbindung war allerdings zurückliegend auf der Flügel-Website genannt worden.

Auch in diesem Fall könnte das Flügel-Vorgehen der Gesamtpartei zur Last fallen, denn die Geldflüsse wurden an der regulären Buchführung der Partei vorbeigeschleust und nicht ordnungsgemäß als Einnahmen deklariert. Die Bundestagsverwaltung prüft den Vorgang bereits, sie hat wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten schon mehrfach hohe Strafzahlungen gegen die AfD verfügt. In einem früheren Fall war es um die Finanzierung eines „Flügel“-Treffens im Jahr 2017 gegangen.


* Aktualisierung von 12:45 Uhr: Das für heute angesetzte Flügel-Treffen wurde nach ARD-Informationen abgesagt. Begründet wird das mit der Corona-Pandemie. Ein neuer Termin ist noch nicht bekannt.