Mit einer Serie von Kundgebungen in verschiedenen sächsischen Orten inszeniert sich die AfD als Anti-Lockdown-Partei. Für den Versuch, sich an die Spitze der neuen Corona-Proteste zu setzen, argumentiert man mit dem Grundgesetz – geht aber auch auf Tuchfühlung mit Neonazis.
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Die AfD hat am gestrigen 1. Mai in mehreren sächsischen Städten demonstriert. Im Vordergrund stand dabei der Protest gegen die Pandemiebekämpfung. Die Partei, die einst selbst weitgehende Maßnahmen gefordert hatte, ist inzwischen auf einen fundamental-oppositionellen Kurs eingeschwenkt und will ein rasches Ende der aktuell geltenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens erreichen. Sie brachten es mit sich, dass die AfD-Kundgebungen überschaubar blieben: Nur wenige Teilnehmende waren jeweils erlaubt, die einzelnen Veranstaltungen durften nur kurze Zeit andauern. Sie waren durch mehrere Kreisverbände und Regionalgruppen der Partei organisiert worden – offenbar eine konzertierte Aktion.
Vormittag: Pirna, Görlitz und Zittau
Weniger als die zugelassenen 30 Personen trafen sich gestern Vormittag in Pirna (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) unter dem Motto „Sicherung unserer Freiheitsrechte laut Grundgesetz“. Die AfD war hier mit namhaften Funktions- und Mandatsträgern erschienen. Darunter befanden sich der Landesvorsitzende Jörg Urban und der Generalsekretär Jan Zwerg, die Landtagsabgeordneten Norbert Mayer und Ivo Teichmann sowie das Kreistagsmitglied Lothar Hoffmann, der auch den Kreisverband leitet. Einige von ihnen trugen den vorgeschriebenen Mundschutz nicht durchgängig. Bemerkt hat das kaum jemand, denn es fanden sich nur wenige Zaungäste ein – anders als am Mittwoch der Vorwoche, als das erste Mal unter Corona-Bedingungen in Pirna demonstriert worden ist. Dazu hatte Steffen Janich aufgerufen, Kreistagsmitglied der AfD und Polizeibeamter. Weil er die Versammlung, der sich rund 180 Personen angeschlossen haben, nicht vorher angemeldet hatte, laufen jetzt Ermittlungs- und Disziplinarverfahren gegen ihn.
An diesem Mittwoch hat es erneut einen Demonstrationszug in Pirna gegeben, Initiator*innen gaben sich diesmal nicht zu erkennen. Nach Polizeiangaben waren es nun bereits bis zu 350 Beteiligte gewesen, die ungehindert durch die Innenstadt liefen. Die Beamt*innen sperrten den Marktplatz ab, gingen ansonsten aber nicht gegen die verbotene Versammlung vor. Sie versuchen nun im Nachhinein, Beteiligte zu ermitteln. Das ist möglich anhand veröffentlichten Videomaterials: Ausschnitte des Aufzugs sind bei Youtube auf einem parteinahen Kanal zu sehen. Das Impressum führt zu einer Anschrift in Riesa, an der sich das Büro des Landtagsabgeordneten Carsten Hütter befindet, und zu einer Website, die über „patriotische Aktivitäten in und um Dresden“ berichtet. Der Betreiber ist Andreas Tutsch, ein bekanntes Gesicht von Pegida-Versammlungen. Seit längerem schon dokumentiert er auch Veranstaltungen der Partei, inzwischen fotografiert und filmt er im Auftrag der AfD-Landtagsfraktion.
Deren Abgeordnete – namentlich Sebastian Wippel, Jens Oberhoffner, Roberto Kuhnert und Mario Kumpf – waren gestern auch in Görlitz und Zittau (Landkreis Görlitz) im Einsatz. In beiden Orten gab es nacheinander AfD-Kundgebungen unter dem Motto „89 wollten wir mündige Bürger sein. Lasst euch jetzt nicht das Wort verbieten!“ Es beteiligten sich außerdem der AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla und der Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse. Bereits am vergangenen Montag hatten sich in Zittau rund 50 Personen versammelt. Der Organisator war mit Thomas Walde ein Pegida-Anhänger, der eine Anmeldung eingereicht, keine Ausnahmegenehmigung erhalten und die Versammlung trotzdem durchgeführt hat. In seinem Publikum wehte eine Fahne der verfassungsfeindlichen Identitären Bewegung, auch AfD-Mitglieder waren dabei. Kleiner und weniger prominent besetzt blieb gestern Vormittag eine Kundgebung in Borna (Landkreis Leipzig). Das Landtagsmitglied Jörg Dornau war vor Ort, der Kreisverbandsvorsitzende Edgar Naujok hielt eine Rede vor einer Hand voll Zuschauer*innen. Werbung für diese Veranstaltung hatte es vorab kaum gegeben.
Nachmittag: Chemnitz, Bautzen, Dresden und (fast) Aue
Die Kundgebungsserie ging am Nachmittag zunächst in Chemnitz weiter. Dort sollte ursprünglich eine größere AfD-Demonstration stattfinden, die schon Anfang des Jahres angekündigt worden war. Pandemiebedingt wurde daraus ein einfacher Informationsstand, zu dem Interessierte nur unter Beachtung der Hygieneauflagen durchgelassen wurden. Deutlich mehr Begängnis gab es am späteren Nachmittag in Bautzen (Landkreis Bautzen). Dort hatten sich bereits in den vergangenen Wochen wiederholt Personen aus einem Reichsbürger-nahen Spektrum getroffen, auch im Vorfeld des Maifeiertags kursierten Aufrufe zu einem „Spaziergang“, der nicht angemeldet war. Tatsächlich sammelten sich rings um den Kornmarkt dann rund 150 Personen. Unter ihnen war auch Karsten Hilse, der eine Eilversammlung anmeldete und genehmigt bekam. Offiziell nahmen daran nur wenige Parteifreund*innen teil, darunter mehrere AfD-Stadtratsmitglieder. Zahlreiche Schaulustige blieben aber im Umfeld.
Offiziell nur als Beobachter war ebenfalls am Nachmittag der Landes- und Fraktionsvorsitzende Jörg Urban auf dem Neumarkt in der Landeshauptstadt Dresden dabei. Dort sammelte sich ein Spektrum, das stark an Pegida erinnerte und das sich in der Vergangenheit – und an diesem Tag nochmals direkt im Anschluss – am Palaisteich im Großen Garten getroffen hatte, um gegen die Corona-Beschränkungen zu „spazieren“. Neben den 15 erlaubten Beteiligten waren im Zentrum mehr als hundert weitere Unterstützer*innen vor Ort, darunter auch mehrere AfD-Stadträt*innen. Urban war ihnen ein willkommener Gast: „Er schüttelte viele Hände“, bemerkte die Sächsische Zeitung.
Eine weitere Kundgebung mit AfD-Beteiligung sollte es am Nachmittag in Aue (Erzgebirgskreis) geben. Organisator war Stefan Hartung, der den NPD-Kreisverband leitet. Er war beteiligt gewesen an einer vielbeachteten „Pro Chemnitz“-Kundgebung am 20. April, zu der auch zwei AfD-Kommunalpolitiker aufgerufen hatten. Am Rand war es zu Tumulten mit der Polizei gekommen, namhafte AfD-Politiker*innen waren zugegen. In Aue wollte Hartung gestern mit 400 Personen aufmarschieren, erhielt aber keine Ausnahmegenehmigung. Kurzfristig bekam er dann jedoch eine Erlaubnis, sich mit 30 Personen auf dem Altmarkt zu versammeln. An die 200 Sympathisierende, darunter bekannte Neonazis, hielten sich im Umfeld auf. Sie widersetzten sich teils den Anweisungen der Polizei, sich zu zerstreuen, wurden ausfällig und handgreiflich. Infolge der Tumulte kam ein geplanter Redner nicht zum Zug: Nach Angaben Hartungs wurde Lars Bochmann nicht zur Kundgebung durchgelassen. Bochmann ist Vorsitzender der AfD-Fraktion im Stadtrat von Aue-Bad Schlema.
Neues Protestthema für die AfD
Bereits in den drei Vorjahren war die sächsische AfD bestrebt, den 1. Mai in ihrem Sinne zu besetzen. Sie hatte unter anderem zu Kundgebungen in Zwickau, Chemnitz und Dresden aufgerufen. Nach anfänglichen Versuchen, gezielt Lohnabhängige zu umwerben und sie den verhassten Gewerkschaften abspenstig zu machen, handelte es sich zuletzt eher um klassische Wahlkampfveranstaltungen in Frühschoppen-Atmosphäre. Einen zentralen Platz im Veranstaltungskalender der AfD hatte der Maifeiertag bislang nicht. Es liegt nicht nur an Corona, dass sich gestern ein anderes Bild zeigte: Schon seit geraumer Zeit tritt die AfD, die sich im Osten als eine „Bewegungspartei“ versteht, mit ihrer Demonstrationspolitik auf der Stelle.
Den steilen Aufstieg bis zur Bundestagswahl 2017 hatte die Partei auch ihrer Rolle als faktische Schirmherrin sogenannter Anti-Asyl-Proteste zu verdanken, die aber seitdem stark abgeebbt sind. Ein zugkräftiges Nachfolgethema war lange nicht in Sicht, wird aber umso händeringender gesucht, je näher das Bundestagswahljahr 2021 rückt. Zuletzt hatte die sächsische AfD erfolglos versucht, eine Kampagne gegen die grüne Justizministerin Katja Meier loszutreten. Zudem waren Protestveranstaltung gegen die geplante Erhöhung der Rundfunkgebühr und die Anhebung von Landtagsdiäten in Vorbereitung. Dass es diese Erhöhung nun doch nicht geben wird und der Anti-GEZ-Protest in der öffentlichen Debatte aktuell nicht präsent ist, liegt an der Pandemiekrise, in der die AfD selbst immer unsichtbarer geworden ist. Durch das Aufkommen von Protesten gegen die Pandemiebekämpfung will die Partei nun aus ihrer Not eine Tugend machen, indem sie sich an die Spitze dieser Proteste setzt.
Erfunden hat sie diese neue Bewegung freilich nicht, ein Ausgangspunkt sind die wöchtenlichen „Hygienedemos“, die seit Ende März in Berlin stattfinden und inzwischen auch in Sachsen nachgeahmt werden. Vieles daran erinnert in der heterogenen Zusammensetzung und den indifferenten Zielen an die querfrontartige Mahnwachenbewegung des Jahres 2014 – und manches an die Pegida-Bewegung, die direkt im Anschluss entstanden ist. Genau wie bei Pegida spricht man jetzt von „Spaziergängen“. Die „Pro Chemnitz“-Kundgebung am 20. April gab ein kaum zu übersehendes Startsignal, in unterschiedlichen Orten loszulaufen. Seitdem ist auch klar, dass mit dem Thema ein erhebliches Mobilisierungspotential verbunden ist und hohe Medienaufmerksamkeit generiert werden kann. An beidem ist die AfD brennend interessiert. Wie sich bislang – und gestern erneut – zeigte, nimmt man dafür auch Schulterschlüsse mit Vereinigungen in Kauf, gegen die Unvereinbarkeitsbeschlüsse bestehen.
Billige Selbstinszenierung
Das Vorgehen der sächsischen AfD am Maifeiertag war ein konzertierter Versuch, sich vor allem im ostsächsischen Bereich frühzeitig als Schirmherrin eines möglicherweise beginnenden Protestzyklus anzubieten. Das passt gut zu dem neuen Image der AfD als einer Anti-Lockdown-Partei, und es passt auch gut dazu, dass sie sich mit den Mobilisierungsdynamiken in sozialen Netzwerken gut auskennt. Die Partei kann außerdem leicht anschließen an ihre aktuelle Pro-Grundgesetz-Kampagne, mit der sie eigentlich beweisen wollte, kein Fall für den Verfassungsschutz zu sein. Jetzt geriert man sich geradezu als Hüterin der Bürger*innenrechte: Bei den Corona-Protesten werden Grundgesetze hochgehalten und Warnungen vor einer „Diktatur“ ausgesprochen. Der suggestive Beleg ist der Mund-Nase-Schutz, den öffentlich zu tragen die Partei noch vor kurzem eingefordert hat – und der jetzt zum Symbolbild für einen angeblichen „Maulkorb“ umgelogen wird.
Doch den Mund verbietet ihnen niemand, im Gegenteil. Die AfD kann derzeit leicht den Umstand ausnutzen, dass statt einheitlicher Bestimmungen ein Flickenteppich an Regelungen entstanden ist, wie insbesondere die Versammlungsfreiheit mit dem Infektionsschutz in Einklang gebracht werden kann. Nach der aktuellen sächsischen Corona-Schutzverordnung sind Versammlungen verboten, außer es wird eine Ausnahmegenehmigung erteilt, die an die Einhaltung sehr weitreichender Auflagen gebunden ist. Versammlungen, die nicht zugelassen wurden oder die den Infektionsschutz nicht gewährleisten, „sind aufzulösen“, und zwar auch dann, wenn unter normalen Umständen kein Verstoß gegen das Versammlungsgesetzt vorliegt. So heißt es ausdrücklich in einer Handreichung, die das sächsische Innenministerium den Landkreisen und Kommunen zur Verfügung gestellt hat.
Doch bisher ist von Auflösungen nicht viel zu sehen, wurden viele Augen zugedrückt. Organisator*innen und Beteiligte unerlaubter Versammlungen werden in der Regel auch nicht belangt, obwohl Bußgelder vorgesehen sind. Das schafft allerhand Spielräume für Protestformate, die rebellisch aussehen, aber doch nur von einer liberalen Handhabung geltender Einschränkungen leben. An ihnen wird sich mit der neuen Verordnung, die in Sachsen ab Montag gilt, nichts Grundlegendes ändern. Die AfD wird nicht zögern, weiter mitzumischen.