Kalbitz raus!

Der AfD-Vorstand hat den Neonazi Andreas Kalbitz rausgeworfen. Die Entscheidung fiel nicht einstimmig, das Ergebnis ist überraschend. Zuletzt hatte die sächsische Landespartei dem Flügel-Frontmann noch demonstrativ den Rücken gestärkt. Jetzt könnte der Machtkampf vollends eskalieren.

Ein unerwarteter Schritt: Der Bundesvorstand der AfD hat am späten Freitagnachmittag die Mitgliedschaft des brandenburgischen Partei- und Fraktionschefs Andreas Kalbitz aufgehoben. Das Spitzengremium, dem Kalbitz bis dato selbst angehört hat, ist zu dem Schluss gelangt, dass er beim Eintritt in die Partei vor rund sieben Jahren seine früheren Mitgliedschaften in der Partei „Die Republikaner“ und in der 2009 verbotenen Neonazi-Organisation „Heimattreue deutsche Jugend“ (HDJ) verschwiegen hat. Aus Sicht einer Mehrheit des Vorstands war Kalbitz‘ Mitgliedschaft nie wirksam Mitglied geworden und wird daher annulliert. Der Ausschluss gilt mit sofortiger Wirkung. Für diesen Schritt stimmten sieben Vorstandsmitglieder, fünf dagegen, es gab außerdem eine Enthaltung.

Mitglied oder nicht?

Um 15 Uhr hatte die Vorstandssitzung begonnen, das erste Treffen vis-à-vis seit mehreren Wochen und eines der spannendsten bisher, Mobiltelefone waren verboten. Der Bundesvorstand hatte Kalbitz, einer prominenten Führungsfigur des verfassungsfeindlichen Flügels, vor einem Monat aufgetragen, seine politische Vergangenheit offenzulegen. Er sollte ausführlich über Organisationen und Veranstaltungen der extremen Rechten berichten, an denen er beteiligt war. Vor einigen Tagen lieferte er ein fünfseitiges Schreiben ab. Es sei „durchaus möglich und wahrscheinlich“, dass sein Name auf einer „Interessenten- oder Kontaktliste“ der Neonazi-Organisation HDJ verzeichnet war, heißt es darin.

Jedoch bestreitet er, Mitglied „im juristischen Sinne“ gewesen zu sein. Genau das legt ihm das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zur Last. Als das BfV Mitte März bekanntgegeben hat, den Flügel zum Beobachtungsobjekt hochzustufen, begründete die Behörde das unter anderem mit der langjährigen Verankerung Kalbitz‘ in der Neonaziszene und nennt ihn seither öffentlich einen „Rechtsextremisten“, der falsche Angaben über seine Vergangenheit mache. Das BfV behauptet insbesondere, eine HDJ-Mitgliederliste zu besitzen, auf der eine „Familie Andreas Kalbitz“ samt einer ordentlichen Mitgliedsnummer verzeichnet sei. Kalbitz weist das zurück, spricht von einer „Fälschung“.

Eine frühere Mitgliedschaft bei den Republikanern Anfang der 1990er Jahre, die bereits bekannt war, gab er nun hingegen zu. Seiner eigenen Ansicht nach betätigte er sich dort zu einer Zeit, als jene Partei noch nicht als „rechtsextremistisch“ anzusehen war. „Ich war vor meiner AfD-Mitgliedschaft zu keinem Zeitpunkt Mitglied einer als rechtsextremistisch eingestuften oder auf der Unvereinbarkeitsliste aufgeführten Vereinigung und/oder Teil des organisierten Rechtsextremismus“, heißt es in der Stellungnahme abschließend.

„Rechtsextrem auslegbar“

Kalbitz räumt allerdings „einzelne, als rechtsextrem auslegbare“ Bezüge ein. Der Parteivorstand sieht es nun – weit konkreter – als erwiesen an, dass Kalbitz sehr wohl Mitglied der HDJ gewesen ist. Dies und die Mitarbeit bei den Republikanern hätte er den Parteistatuten zufolge zum Zeitpunkt des Parteieintritts angeben müssen. Mit Kalbitz‘ Vorleben befasste sich die AfD-Spitze aufgrund der Befürchtung, dass sich der Verfassungsschutz nach dem Flügel die Gesamtpartei vornehmen könnte, wenn man sich nicht erkennbar und nachhaltig vom rechten Rand abgrenzt. In diesem Sinne hatte der Bundesvorstand entschieden, dass sich der völkisch-nationalistische Flügel auflösen muss, der bis dato durch Björn Höcke und Kalbitz angeführt worden ist. Für diesen Schritt gab es eine breite Mehrheit, die einzige Gegenstimme kam von Kalbitz selbst.

Im Vorfeld hatte es aus westdeutchen Landesverbänden Forderungen gegeben, auch gegen führende Repräsentanten dieser Strömung vorzugehen und insbesondere Kalbitz aus der Partei auszuschließen. Doch das ging dem Vorstand vor einigen Wochen zu weit, man versicherte damals, dass im Zuge der Flügel-Auflösung niemand seine Funktion oder gar Mitgliedschaft verlieren werde. Inzwischen hat die Strömung die Einstellung ihrer Aktivitäten erklärt. Damit, so sah es ein Teil der Vorstands, hätte das Thema abgehakt sein können.

Tatsächlich kam die Entscheidung, sich eingehender mit Kalbitz‘ brauner Vita zu befassen, nur noch mit knapper Mehrheit zustande. Schon länger stand der Verdacht im Raum, dass Kalbitz seine Parteifreund*innen im Ungewissen über sein Vorleben gelassen hat – offenbar, um nicht ausgeschlossen zu werden. Wer einer Organisation angehört hat, die in Verfassungsschutzberichten auftaucht, kann nicht Parteimitglied sein, so die eingängige Regelung. Da Kalbitz bereits die Voraussetzungen, überhaupt AfD-Mitglied zu werden, nicht erfüllt hat, konnte der Vorstand nun kurzen Prozess machen, die Mitgliedschaft annullieren und auf ein langwieriges Ausschlussverfahren mit unklarem Ausgang verzichten.

Chrupallas wollte ein Zeitspiel

Dass der Ausschluss gelingen würde, galt im Vorfeld als unwahrscheinlich. Zwar hatten im Vorfeld der heutigen Sitzung die beiden Parteivorsitzenden Jörg Meuthen und Tino Chrupalla sowie die stellvertretende Bundeschefin Alice Weidel das Thema gemeinsam auf die Tagesordnung gesetzt, um Kalbitz‘ Stellungnahme zu diskutieren. Doch über den weiteren Ablauf war man sich uneins: Meuthen wollte direkt über einen möglichen Ausschluss abstimmen lassen. Chrupalla und Weidel traten dafür ein, die Stellungnahme zunächst juristisch zu bewerten und erst bei einer späteren Sitzung darauf zurückzukommen. Ihnen ging es also um eine Vertagung.

Zusätzlicher Druck war in den vergangenen Tagen vom brandenburgischen Verfassungsschutz gekommen. Die Behörde hat öffentlich angedeutet, dass Kalbitz‘ gesamter Landesverband zum „rechtsextremen Verdachtsfall“ hochgestuft werden könnte, ein Schritt, den man bisher nur in Thüringen gegangen ist. Die Messlatte werde sein, „wie der AfD-Bundesvorstand mit Kalbitz umgeht“, sagte der brandenburgische Verfassungsschutz-Präsident Jörg Müller in dieser Woche in mehreren Presseinterviews. Bei der Behörde zweifelt man auch daran, dass sich der Flügel tatsächlich aufgelöst hat, und geht vielmehr von einer zunehmenden „Verflügelung“ der Partei aus.

Kalbitz selbst gab sich zuletzt „völlig gelassen“, wie er auf Medienanfragen wissen ließ. Sein Landesverband und seine Fraktion standen bis zuletzt geschlossen hinter ihm, sie waren lange nur auf ihn hin ausgerichtet, eine innerparteiliche Opposition gibt es nicht. Die Macht hatte er von seinem Vorgänger übernommen, der Alexander Gauland heißt, Ehrenvorsitzender der Partei ist und der vorab dafür plädiert hat, Kalbitz keinesfalls auszuschließen. Kalbitz konnte sich außerdem darauf verlassen, den thüringischen Landesverband hinter sich zu haben, den sein Flügel-Weggefährte Höcke leitet. Doch die Fürsprachen genügten nicht.

Sachsen-AfD steht hinter Kalbitz

Auch in Sachsen hat der Flügel die Hausmacht, auch hier stärkte man Kalbitz immer wieder demonstrativ den Rücken. Schon im März, als es um die Auflösung des Flügels ging, nahmen Landeschef Jörg Urban und Generalsekretär Jan Zwerg ihn namentlich in Schutz. „Zu unserer AfD gehört jeder, dem die Zukunft Deutschlands am Herzen liegt“, formulierten sie in einem internen Rundschreiben, Kalbitz gehöre „selbstverständlich dazu“. Kurz darauf konnte die Sachsen-AfD Kalbitz als prominenten Unterzeichner der Flügel-freundlichen Dresdner Erklärung gewinnen. Der Text wurde wenige Tage vor der angeblichen Flügel-Auflösung veröffentlicht, dessen Vollzug auch der sächsische Verfassungsschutz anzweifelt.

Die bisherige sächsische Protagonisten des Flügels, darunter Urban und Zwerg, haben sich von dieser Strömung keineswegs distanziert. Für die Dresdner Erklärung akquirierten sie mit Tino Chrupalla, der aus Sachsen stammt, sogar den Parteichef als einen weiteren namhaften Unterstützer und rückten seinen Namen auf den ersten Platz der Erstunterzeichner*innen. Mit seiner Unterschrift bekannte sich Chrupalla zur „Vereinigung aller Kräfte und Strömungen“ und zur „Einheit der Partei“ – inklusive Kalbitz. Zuvor hatte Chrupalla im Bundesvorstand für die Auflösung des Flügels votiert und damit seinen eigenen Landesverband verstimmt. Dessen Unterstützung wird er aber brauchen, um Spitzenkandidat zur Bundestagswahl im nächsten Jahr zu werden.

Gemeinsam mit Alice Weidel will er ein Führungs-Duo bilden, beide waren Ende vergangenen Jahres mit Flügel-Stimmen in den AfD-Bundesvorstand gewählt worden. Das erklärt ihre kulante Zurückhaltung vor Beginn der entscheidenden Sitzung. Kalbitz unbedingt in der Partei zu behalten forderte die sächsische AfD auch offensiv ein: Gestern postete Generalsekretär Jan Zwerg bei Facebook ein Foto, das Landeschef Urban Arm in Arm mit Höcke und Kalbitz zeigt. Kommentar dazu: „Einigkeit und Kontinuität bringen den Erfolg. Und dabei bleibt es!“ Etliche sächsische Abgeordnete und Funktionär*innen gaben dem Beitrag ein Like.

Flügel will zurückschlagen

Heute äußerte sich der Landtagsabgeordnete Mario Beger, der seine Zuneigung zum Flügel erst in jüngster Zeit entdeckt hat. Auch er veröffentlichte ein Kalbitz-Foto, sein Text dazu: „Einer unserer besten. Wir halten zu Dir Andreas, ohne wenn und aber.“ Es ist unklar, wer „wir“ ist. Es fällt aber auf, dass aus der hiesigen Landespartei keine abweichenden Meinungen durchdringen. Auch der sächsische Bundestagsabgeordnete Siegbert Droese nannte heute Kalbitz gegenüber der Deutschen Presse-Agentur „einen unserer erfolgreichsten Wahlkämpfer“. Es wäre falsch, auf ihn zu verzichten, so Droese. Auch er ging offensichtlich nicht davon aus, dass Kalbitz wirklich gehen muss.

Denn ein Rauswurf, das ist der Bundesspitze klargemacht worden, wird unkalkulierbare Folgen haben. Hinter den Kulissen bauen Flügel-Kreise immer mehr Druck auf, versucht schon seit Wochen, den Spieß umzudrehen und den ungeliebten Parteivorsitzenden Meuthen aus dem Amt zu drängen. Er gilt als Hauptverantwortlicher für die Auflösung des Flügels. Über diese Strömung hinaus haben sich weitere Teile der Partei von ihm entfremdet, nachdem er vorschlug, die AfD zu teilen und den Flügel abzuspalten. Die Dresdner Erklärung lässt sich als eine Antwort darauf verstehen.

Es gibt noch mehr Vorwürfe gegen Meuthen. Ihm wird nachgesagt, im Umgang mit dem rechten Rand der Partei und Kalbitz als einem der wichtigsten Protagonisten die Position des Verfassungsschutzes zu beziehen und auf Argumente politischer Gegner*innen zurückzugreifen. Ihn und weitere Vorstandsmitglieder verdächtigt man, in dem Zusammenhang wiederholt Interna an die Medien durchgestochen zu haben. Kalbitz‘ Stellungnahme ging beim Vorstand als Brief ein, nicht als E-Mail, aus Sorge, dass der Schriftsatz sonst schnell nach außen geleitet werden könnte. Das Schreiben drang trotzdem an die Medien, genauso wie die Tagesordnung der heutigen Sitzung.

Druckmittel: Stiftungsgelder

Wie das Redaktiosnetzwerk Deutschland berichtet, drohen Flügel-Anhänger*innen, einen Sonderparteitag einzuberufen und dort Gericht über Meuthen zu halten, mit dem klaren Ziel, ihn und weitere Vorstandsmitglieder aus dem Amt zu wählen. In einem gestern Abend versandten Newsletter der Rechtaußen-Kräfte in der Partei, dem sogenannten Stuttgarter Brief, ist die Rede von einer „dunklen Stunde unserer Partei“. Meuthen wird darin als „politischer Totalausfall“ beschimpft, „parteischädigend“ genannt, ein Ausschlussverfahren gegen ihn gefordert. „Andreas Kalbitz muss bleiben!“, heißt es am Ende. Die Stuttgarter Briefe gehen auf eine Flügel-nahe Erklärung zurück, den sogenannten Stuttgarter Aufruf aus dem Jahr 2018. Ihn hatten auch mehr als 50 sächsische Funktions- und Mandataträger*innen unterzeichnet.

Der mächtigste Hebel, den die Flügel-Kräfte bedienen könnten, liegt aber außerhalb der AfD: die parteinahe Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES). Dort versucht man gerade, das Vorstandsmitglied Erik Lehnert auszuschließen. Er leitet parallel das private „Institut für Staatspolitik“, einen neurechten Think Tank, der eng mit dem Flügel verbandelt ist und der neuerdings ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Sollte sich die Behörde auch für die Stiftung interessieren, so die Befürchtung, wären ihre Gemeinnützigkeit und der Fluss von Fördermitteln gefährdert. Sie könnten fließen, sobald die AfD im nächsten Jahr erneut in den Bundestag einzieht. Über die nächsten vier Jahre hinweg geht es um einen hohen zweistelligen Millionenbetrag.

Der Flügel besteht aber aus Prinzip darauf, dass Lehnert bleiben darf. Wie die parteinahe Wochenzeitung Junge Freiheit in ihrer aktuellen Ausgabe berichtet, könnte die Strömung andernfalls versuchen, der DES ihren Status als parteinahe Stiftung abzuerkennen und damit völlig trockenzulegen. Vor rund zwei Jahren war die DES nur mit der knappen Mehrheit eines Parteitags anerkannt worden. Bei einem künftigen Parteitag könnte man den umgekehrten Weg gehen. Die aktuellen Kräfteverhältnisse in der AfD vermag niemand sicher einzuschätzen. Erst recht nicht jetzt, nach Kalbitz‘ Rauswurf.