Die sächsische AfD-Fraktion zieht nicht vor den Verfassungsgerichtshof in Leipzig, um eine Neuwahl zu erzwingen – trotz anderslautender Ankündigungen. Der überraschende Verzicht zeichnete sich bereits ab, die entscheidende Frist ist inzwischen verstrichen. Mit einer Ausnahme: Jörg Domsgen hat rechtzeitig Beschwerde eingelegt. Der Kommunalpolitiker stand zur Landtagswahl erst auf einem aussichtslosen Listenplatz und durfte dann gar nicht antreten. Daran war aber mutmaßlich die Partei schuld.
Beitrag vom 06.11.2020, 18:00 Uhr │ Im Bild: Jörg Domsgen, verhinderter Landtagskandidat der AfD.
Eine Fraktion gibt auf
Die AfD-Landtagsfraktion verzichtet endgültig auf eine Klage beim sächsischen Verfassungsgerichtshof gegen die Landtagswahl im vergangenen Jahr. Ende Oktober verstrich die Frist, um eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Parlaments einzulegen, das am 30. September eine Reihe von Wahleinsprüchen mehrheitlich abgewiesen hat. Die demokratischen Fraktionen waren dabei der Empfehlung des Wahlprüfungsausschusses gefolgt, den Eingaben der Landespartei und mehrerer früherer Kandidierender nicht weiter nachzugehen. Vorangegangen war eine monatelange Erörterung im Ausschuss. Dort wollte die AfD die Gültigkeit der Wahl anfechten, weil man durch die Kappung der Landesliste auf 30 von insgesamt 61 vorgesehenen Plätzen unrechtmäßig benachteiligt worden sei. Konsequenz: Die Partei erzielte am 1. September 2019 mit 27,5 Prozent zwar ein Top-Ergebnis, gewann aber auch ein Mandat, das sie nicht besetzen konnte. Statt 120 hat der aktuelle Landtag nur 119 Stühle.
Seither stand die Forderung nach Neuwahlen im Raum, die zu erzwingen ein zentrales Wahlversprechen der AfD war. Noch bei der entscheidenden Plenarsitzung vor wenigen Wochen kündigte Fraktionschef Jörg Urban „Teil zwei der Verfassungskrise“ an und gab Journalist*innen zu verstehen, bestens vorbereitet zu sein, um juristisch zu erreichen, was auf parlamentarischem Weg nicht gelang. Doch er hatte die Rechnung ohne seine Fraktion gemacht. Denn die meisten der 38 Mitglieder wollten nicht mitziehen: Mindestens ein Dutzend Abgeordnete hätte es gebraucht, stattdessen stand nach Angaben der Freien Presse eine „klare Mehrheit gegen eine Klage“. Auch der Landesvorstand der Partei und der Landessenat, zu dem die Spitzen der Kreisverbände gehören, berieten das brenzlige Thema, und auch dort tendierte man gegen den Rechtsweg. Das ist nicht verwunderlich, Fraktion und Landespartei sind eng verwoben, fast alle Abgeordneten sind zugleich Funktionär*innen.
Inzwischen gibt es einen offiziellen Fraktionsbeschluss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Im Hintergrund steht offenbar die Sorge, die eigenen lukrativen Mandate wieder zu verlieren. So ist ungewiss, ob die AfD bei einer erneuten Wahl an ihr früheres Ergebnis anknüpfen könnte oder geschwächt daraus hervorgehen würde. Für einige Abgeordnete war bereits die innerparteiliche Nominierung zum Nervenspiel geraten. Carsten Hütter etwa bewarb sich auf Listenplatz drei, wurde aber bis Rang 15 durchgereicht. Noch ärger kam es für Karin Wilke, die den erneuten Einzug ins Parlament verpasste. Sie wollte auf den sicheren Platz sechs, es reichte aber nur für die Nummer 37. Die Parteibasis ist kaum kalkulierbar, doch ihr müssen nun Partei und Fraktion erklären, warum aus der versprochenen Klage nichts wird.
Nur ein einzelner Ex-Kandidat klagt
Stattdessen schwieg zunächst Jörg Urban, der zugleich AfD-Landesvorsitzender ist. Als er am vergangenen Montag bei einer Pressekonferenz in Dresden die Klage seiner Fraktion gegen die sächsische Corona-Schutzverordnung präsentierte, mochte er zur Causa Neuwahl nichts sagen und verwies auf eine schriftliche Stellungnahme. Die wurde gestern verschickt, verfasst hat sie der Landes- und Fraktionssprecher Andreas Harlaß. Ihm zufolge spielt ein möglicher Mandatsverlust angeblich keine Rolle bei der Entscheidung, die Partei stehe derzeit „ebenso stark da, wie vor der Landtagswahl im vergangenen Jahr“. Er verweist auf die Kosten eines erneuten Urnengangs, angesichts anderer Sorgen während der Pandemie wäre das den Bürger*innen „nicht vermittelbar“. Also werde man die parlamentarische Arbeit „in bewährter Formation kontinuierlich fortsetzen“.
Die Kürzung der AfD-Landesliste bezeichnet Harlaß gleichwohl als „Willkürakt“, dem man im derzeit stockenden Untersuchungsausschuss weiter nachgehen will, den die AfD-Fraktion einsetzen ließ. Sie unterstellt eine groß angelegte Intrige, mit der die Partei im Vorfeld der Landtagswahl geschwächt werden sollte. Greifbare Indizien dafür gibt es noch immer nicht. Entgegen dieser Sicht hatte bereits im vergangenen Jahr das Verfassungsgericht einen „beachtlichen Wahlvorbereitungsfehler“ erkannt, für den allein die AfD verantwortlich war, weil sie während der Listenaufstellung das vorab vereinbarte Abstimmungsverfahren geändert und damit gegen demokratische Wahlgrundsätze verstoßen hat. Sollte sich das Gericht erneut mit der Landtagswahl befassen, könnte es wieder um diesen Schnitzer gehen – den die AfD jedoch bis heute nicht einräumt. Diese missliche Situation droht allerdings noch immer. Denn wie am Mittwoch die Freie Presse berichtete, hat das Verfassungsgericht überraschend doch noch eine fristgerechte Beschwerde erreicht. Sie stammt von einem einzelnen Bewerber, der 2019 nicht antreten durfte: Jörg Domsgen.
Der selbständige Wirtschaftsberater, der in der Wendezeit Mitglied der SED und der PDS war, sitzt aktuell für die AfD im Görlitzer Kreistag und im Stadtrat von Zittau. Im vergangenen Jahr war er Listenkandidat zur Landtagswahl, wenn auch fast am Ende, er war Nummer 56 statt auf Platz 18, worum er sich zunächst beworben hatte. Damit standen seine Chancen von vornherein nicht gut und nach der Kürzung der Landesliste bei null. Nach der Landtagswahl war der 53-Jährige einer von insgesamt neun Ex-Kandidierenden, die Beschwerde beim Wahlprüfungsausschuss einlegten, oder in seinem Fall: einlegen ließen. Ihn vertrat dabei der extrem rechte Parteirichter Martin Braukmann. Die Forderung: Entweder müssen die gestrichenen Listenplätze nachträglich zugelassen oder aber Neuwahlen angesetzt werden. Der Landtag wies das zurück. Dadurch ist Domsgen zumindest formell befugt, Beschwerde beim Verfassungsgericht einzulegen – Ausgang: offen.