Presseschau, 32. Kalenderwoche 2020

AfD-naher Bürgermeister in Oßling, Kundgebung in Augustusburg, Kandidatur in Ottendorf-Okrilla, Berufung gegen Eilentscheidung, Stasi-Vorwurf erhärtet, Flügel mobilisiert, Auflösung in Luckenwalde, Augustins Rückzug, Mitgliederentscheid für Kalbitz, Brief an Höcke, Nebeneinkünfte, Hildmann-Fan, Kutschera verurteilt, katholische Kirche, Verfassungsschutzgesetz, mutmaßlicher Lübcke-Mörder in Chemnitz, Ermittlung gegen „Germanen“, Neukölln-Komplex. Das war diese Woche wichtig:


In der Presseschau informiert idas jeden Sonntag über lesenswerte Medienberichte und Recherchen rund um die AfD, die im Laufe der Woche erschienen sind.


AfD in Sachsen

Der AfD-nahe Kommunalpolitiker Johannes Nitzsche ist neuer Bürgermeister der Gemeinde Oßling (Landkreis Bautzen). Bei der Wahl am vergangenen Sonntag erhielt der 31-Jährige 53,3 Prozent der Stimmen und setzte sich damit knapp gegen einen Mitbewerber durch. Nitzsche trat im Namen der Wählervereinigung „Bündnis Zukunft gestalten“ an, für die er auch im Gemeinderat sitzt. Zudem ist er parteiloses Mitglied im Bautzner Kreistag, wo er indes der AfD-Fraktion angehört. Er wolle jedoch weiter parteilos bleiben, sagte er nun der Sächsischen Zeitung – einen AfD-Bürgermeister gibt es in Sachsen damit weiterhin nicht. „AfD-Politik wird in meiner Arbeit keine Rolle spielen“, sagte er. Johannes Nitzsche ist der Sohn von Henry Nitzsche, der Vorsitzender der AfD-Kreistagsfraktion ist. Der Senior war Anfang der 1990er Jahre selbst Bürgermeister von Oßling gewesen, damals als Mitglied der DSU. Später saß er für die CDU erst im Landtag, dann im Bundestag. Nach öffentlicher Kritik wegen extrem rechter Äußerungen verließ er die Union Ende 2006, gründete später die Wählervereinigung „Arbeit-Familie-Vaterland“ und schließlich die „Bürgerbewegung Pro Sachsen“. Bei der Kommunalwahl 2019 zog er auf dem AfD-Ticket in den Kreistag ein. (↪ Sächsische, 02.08., ↪ Sächsische, 07.08.)


Mit einer Kundgebung auf dem Fips-Fleischer-Platz in Augustusburg (Mittelsachsen) hat der AfD-Kandidat Mike Moncsek am Dienstagabend seinen Bürgermeisterwahlkampf gestartet. Zu der Versammlung erschienen rund 70 Personen, überwiegend Anhänger*innen der Partei und ihres Nachwuchsverbandes Junge Alternative. Die bekanntesten Parteivertreter vor Ort waren der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla sowie der Europaabgeordnete Maximilian Krah. Die Wahl in der Kleinstadt findet am 13. September statt, ein eventuell erforderlicher zweiter Wahlgang soll am 27. September folgen. Insgesamt kandidieren fünf Personen. Moncsek wird dem inneren Führungskreis der Landespartei zugerechnet, er ist Mitglied des mittelsächsischen Kreistages und Gemeinderatsmitglied in Oberschöna, wo er nach eigenen Angaben wohnt. Daran bestehen aktuell Zweifel, das Landratsamt prüft entsprechende Vorwürfe. (↪ FP, 05.08.)


Für die AfD wird erneut Carsten Rybicki bei der Bürgermeister*innenwahl in Ottendorf-Okrilla (Landkreis Bautzen) antreten. Er hatte bereits bei einem ersten Wahlgang im März kandidiert, 9,5 Prozent der Stimmen enthalten und war damit — hinter zwei parteilosen Einzelbewerbern – auf den dritten Platz gekommen. Der zweite Wahlgang konnte pandemiebedingt nicht mehr rechtzeitig abgehalten werden. Daher wurde die Wahl für den 4. Oktober neu angesetzt, das frühere Ergebnis wird annulliert. Rybicki kommt nicht aus dem Ort, er ist Stadtratsmitglied in Königsbrück. (↪ Sächsische, 08.08.)

AfD rundherum

Der AfD-Bundesvorstand legt Berufung gegen eine Eilentscheidung ein, die eine Zivilkammer des Landgerichts Berlin im Juni getroffen hatte. Das Gericht urteilte damals, dass der Neonazi Andreas Kalbitz der Partei vorübergehend wieder angehören darf, bis das Bundesschiedsgericht der AfD eine abschließende Entscheidung trifft. Die liegt inzwischen vor und fiel gegen Kalbitz aus, der das nicht akzeptiert und sich nun erneut an das Landgericht Berlin wendet. Der Bundesvorstand der Partei beschloss am Montag, die frühere Entscheidung anzufechten. Den Antrag brachte Beatrix von Storch ein, sie hatte das Vorgehen des Parteivorsitzenden Jörg Meuthen gegen Kalbitz unterstützt. Anwaltlich vertreten wird der Bundesvorstand durch Joachim Steinhöfel. Er erläuterte, dass man das Rechtsmittel eingelegt habe, um Fristen zu wahren und „sich alle weiteren Optionen in der rechtlichen Auseinandersetzung offenzuhalten“. Seiner Auffassung nach sei das angefochtene Urteil „durchweg rechtsfehlerhaft“. (↪ Spiegel, 03.08.)


Ein neuer Aktenfund bekräftigt den Stasi-Verdacht gegen den thüringischen AfD-Landtagsabgeordneten Dieter Laudenbach. Kürzlich war bekannt geworden, dass das Ministerium für Staatssicherheit der DDR den heutigen Landespolitiker 1986 unter dem Decknamen „Klaus“ als Inoffiziellen Mitarbeiter angeworben hat. Eine förmliche Verpflichtungserklärung ist bislang nicht bekannt. Laudenbach bestreitet zudem, dass er damals – er war gastronomischer Direktor des Interhotels Gera – „wissentlich“ gespitzelt hat. Doch das stimmt offenbar nicht: Nun wurde ein sogenannter Auskunftsbericht bekannt, den Laudenbach 1985 im Vorfeld seiner Anwerbung angefertigt hatte. Demnach berichtete er der Stasi bewusst und gezielt über ein Ehepaar in seinem Arbeitsumfeld, das ausgeforscht wurde, weil es einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Laudenbach äußerte sich zu dem neuen Aktenfund nicht. Er hat den thüringischen Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen gebeten, ein Gutachten zu erstellen. (↪ Bild, 03.08., ↪ MDR, 04.08.)


Der vorgeblich aufgelöste Flügel der AfD hat sich nach Angaben von Sicherheitsbehörden aktiv in die Mobilisierung zu sogenannten Hygienedemos und zum Großprotest am vergangenen Wochenende in Berlin eingebracht. Das ergibt sich aus Erkenntnissen des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Demnach hätten sich Flügel-Akteur*innen an „erheblichen Mobilisierungsversuchen“ beteiligt, „bis hin zur konkreten Organisation der Anreise“. (↪ FAZ, 04.08.)


Die AfD-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung des brandenburgischen Luckenwalde hat sich aufgelöst. Der bisherige Fraktionsvorsitzende Christian Block teilte das schriftlich mit. Grund für die Auflösung ist demnach der Parteiaustritt des zweiten Fraktionsmitglieds, Klaus-Werner Lehmann. Für dessen Abwendung von der AfD werden „persönliche Gründe“ und „politische Angriffe“ angeführt. Block und Lehmann werden dem Rat weiter als fraktionslose Mitglieder angehören, sind aber nicht mehr in Ausschüssen vertreten und können allein keine Anträge einbringen. Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr hatten sie gemeinsam so viele Stimmen errungen, dass der AfD zwei weitere Plätze zugestanden hätten, die mangels Kandidat*innen aber nicht besetzt werden konnten. (↪ MAZ, 04.08.)


Dennis Augustin, ehemaliger AfD-Landeschef in Mecklenburg-Vorpommern, ist als Vorsitzender der AfD-Kreistagsfraktion im Landkreis Ludwigslust-Parchim abgewählt worden. Daraufhin erklärte Augustin gemeinsam mit Thomas Wüstenberg und Frank Baethke den Austritt aus der Fraktion, die von bisher neun auf nur noch sechs Mitglieder schrumpft. Die Ausgetretenen erklärten, zunächst als Fraktionslose weiter im Kreistag zu bleiben. Hintergrund: Augustins Parteimitgliedschaft war vor gut einem Jahr auf Beschluss des Landesvorstands annulliert worden, weil er beim Eintritt in die AfD ein früheres Engagement bei der NPD und deren Jugendorganisation verschwiegen hatte. Das Landes- und auch das Bundesschiedsgericht der Partei bestätigten den Ausschluss später. Dagegen wandte sich Augustin mit einem Eilantrag an das Landgericht Berlin und beschritt damit einen ähnlichen Rechtsweg wie Andreas Kalbitz. Allerdings wies das Gericht den Antrag, vorläufig wieder in die Partei aufgenommen zu werden, kürzlich ab, weil eine Eilbedürftigkeit nicht bestehe. Zudem äußerte die Zivilkammer Zweifel daran, ob die Bundespartei, gegen die sich Augustin wandte, die richtige Beklagte ist – der ursprüngliche Beschluss stammt vom Landesverband. Augustin hat Beschwerde gegen die Entscheidung eingelegt. Seine Rolle als Kreis-Fraktionschef stand bisher nicht in Frage und wurde erst infolge der Gerichtsentscheidung thematisiert. (↪ SVZ, 05.08., ↪ SVZ, 06.08., ↪ SVZ, 07.08.)


Teile der AfD wollen dem Ex-Mitglied Andreas Kalbitz durch einen Mitgliederentscheid zu einer Rückkehr in die Partei verhelfen. Dem MDR liegt ein entsprechender Antrag vor, der von Dirk Kranefuss aus dem nordrhein-westfälischen Kreisverband Rhein-Kreis Neuss und von Paul Traxl aus dem bayrischen Kreisverband Aichach-Friedberg stammt. Ihr Vorgehen soll mit Stefan Möller abgesprochen sein, er ist neben Björn Höcke Co-Vorsitzender des AfD-Landesverbandes Thüringen. Die Beteiligten äußerten sich auf Presseanfrage nicht zu dem Plan. Der Antrag zielt offenbar darauf, den durch das Partei-Schiedsgericht endgültig bestätigten Beschluss des Bundesvorstands, wonach Kalbitz kein Mitglied mehr sein kann, zu umgehen: Theoretisch kann der 47-Jährige erneut einen Mitgliedsantrag stellen, dem müsste laut Satzung aber der Bundesvorstand zustimmen. In der aktuellen Situation scheint das aussichtslos. Ein erfolgreiches Mitgliedervotum, für das jedoch große Hürden gelten, könnte den Vorstand zu einer anderen Entscheidung zwingen. Bevor der Mitgliederentscheid durchgeführt wird, müssen zunächst 25 Kreisvorstände dem Vorhaben zustimmen. (↪ MDR, 07.08.)


Der Bundesvorstand der AfD hat sich mit einem Brief an den thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke gewandt und dessen kritische Äußerungen gegen das Bundesschiedsgericht der Partei zurückgewiesen. Nach dem Urteil gegen Andreas Kalbitz hatte Höcke in einem Videoclip unterstellt, dass namentlich nicht genannte „Mandatsträger“ Druck auf Mitglieder des Parteigerichts ausgeübt hätten, um ein Urteil zu erwirken, „das der Mehrheit im Bundesvorstand genehm“ ist. Der Parteivorsitzende Jörg Meuthen bestätigte, dass der Vorstand auf die unbelegten Vorwürfe Höckes schriftlich eingegangen ist und sie missbilligt. „Wenn er so weitermacht, wird ihn das weiter politisch beschädigen“, sagte Meuthen dem Focus. Um eine förmliche Ordnungsmaßnahme handelt es sich nicht. (↪ Focus, 07.08., Nr. 33/20, S. 20.)


Einige Bundestagsabgeordnete der AfD profitieren von Nebeneinkünften in beträchtlicher Höhe. Das zeigen aktuelle Recherchen des Portals Abgeordnetenwatch. Demnach vermerkte der Abgeordnete Enrico Komning, der auch als Rechtsanwalt tätigt ist, auf seiner Bundestagsseite einen anonymen Mandanten, von dem er seit 2017 ein Honorar in Höhe von mindestens 700.000 Euro erhielt. Dahinter steht mutmaßlich der Bezahlsender Sky Deutschland. Er soll Komnings Anwaltskanzlei beauftragt haben, Gaststätten abzumahnen. Der Sender bestätigte auf Nachfrage, die Kanzlei „zur Verfolgung von Ansprüchen illegaler Ausstrahlungen im Gastronomiebereich“ eingeschaltet zu haben. Seit Oktober 2017 – nachdem Komning in den Bundestag eingezogen war – habe man jedoch keine neuen Aufträge vergeben und die Geschäftsbeziehung im vergangenen Jahr „endgültig abgewickelt“. Nicht auszuschließen ist, dass sich der Abgeordnete einen Interessenkonflikt eingehandelt hat, denn er ist auch mit Digital- und Medienthemen befasst. Möglicherweise hat zudem ein zweiter AfD-Bundestagsabgeordneter versucht, eine Geschäftsbeziehung zu einem international tätigen Pharmakonzern zu verschleiern: Heiko Heßenkemper aus dem Landkreis Mittelsachsen gibt gegenüber dem Bundestag an, für Beratungstätigkeiten zugunsten einer Firma namens „Glexsus Smith Klein“ aus Dresden im vergangenen Jahr mehrere tausend Euro erhalten zu haben. Ein Unternehmen mit diesem Namen existiert jedoch nicht. Stattdessen hat in Dresden das britische Unternehmen GlaxoSmithKline (GSK), das unter anderem an Covid-19-Impfstoffen forscht, eine Niederlassung. GSK bestätigte nun, Heßenkemper mit der Erstellung technischer Gutachten beauftragt zu haben. „Seine aktuellen politischen Äußerungen passen nicht zu unseren Werten und erlauben keine weitere Zusammenarbeit“, heißt es weiter. Heßenkemper bestätigte die Geschäftsbeziehung. Ihm sei jedoch „nicht erklärlich“, wie es zu der Falschschreibung auf der Bundestagsseite kam. Die Einträge beruhen auf Eigenangaben der Abgeordneten. Inzwischen wurde die Bezeichnung korrigiert. (↪ Abgeordnetenwatch, 07.08.)


Bei einem Youtuber, der sogenannte Corona-Proteste begleitet und zuletzt „als eine Art Hofberichterstatter“ des Verschwörungsideologen Attila Hildmann aufgefallen ist, handelt es sich um den bayrischen AfD-Funktionär Stefan Bauer. Er ist als Schriftführer Vorstandsmitglied im Kreisverband Rosenheim. Im Juni bedrängte Bauer am Rande einer Hildmann-Kundgebung in Berlin Journalist*innen und nötigte sie, ihm Interviews zur Ausstrahlung auf seinem Youtube-Kanal zu geben. Inzwischen beschäftigt sich der AfD-Landesvorstand mit der Personalie und hat Bauer zu einer Aussprache vorgeladen. Ordnungsmaßnahmen sind derzeit offenbar nicht beabsichtigt, werden in seinem eigenen Kreisvorstand aber auch nicht mehr ausgeschlossen. (↪ SZ, 07.08.)

Blauzone

Das Amtsgericht Kassel hat den Biologieprofessor Ulrich Kutschera wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen von je 100 Euro verurteilt. In zwei Anklagepunkten, Volksverhetzung Fahrerflucht, wurde er freigesprochen. Der 65-Jährige hatte 2017 in einem Interview für das christlich-fundamentalistische Internetportal kath.net gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen argumentiert, dabei die „Ehe für alle“ als ein „mögliches Horror-Kinderschänder-Szenario“ sowie das Adoptionsrecht für Homosexuelle als „staatlich geförderte Pädophilie und schwersten Kindesmissbrauch“ bezeichnet. Bei einer Erziehung durch gleichgeschlechtliche Partner*innen handle es sich um eine Form „geistiger Vergewaltigung“ von Kindern. Kutschera berief sich vor Gericht erfolglos auf die Wissenschaftsfreiheit. Schon früher war er durch einschlägige Äußerungen aufgefallen, 2015 nannte er das Gender Mainstreaming ein „Krebsgeschwür“. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Kutschera hat angekündigt, in Revision zu gehen. Er ist nach wie vor für die Universität Kassel tätig, ein Disziplinarverfahren ruht derzeit. Zudem ist er Mitglied im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES). (↪ Spiegel, 03.08., ↪ Taz, 04.08., ↪ HNA, 06.08., ↪ HNA, 07.08.)

Stimme & Haltung

Die katholische Kirche in Sachsen will verstärkt über eine Abgrenzung zum rechten Rand diskutieren. Man erlebe in jüngster Zeit eine Polarisierung „bis in die Gemeinden hinein, in die Gremien“, sagte der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers. Man müsse mehr Klarheit gewinnen im Umgang mit Positionen, „die erkennbar von christlichen Grundüberzeugungen und dem Grundgesetz abweichen“, sagte er und mahnte Grenzen der Toleranz an. Beispielsweise gebe es im Bereich des Bistums Dresden-Meissen auch Anhänger*innen der AfD, die mit dem Glauben nicht zusammenpassen. Wenn darüber hinaus „Mandatsträger in unseren Gremien sind und etwa als Religionslehrer unterwegs, dann entstehen Konflikte“. Wer von AfD-Positionen überzeugt sei, könne kaum unterrichten, „ohne dass seine Überzeugungen mit einfließen.“ Namen nannte Timmerevers nicht. Bekannt ist aber, dass der AfD-Kommunalpolitiker Tilman Matheja als katholischer Religionslehrer im Vogtlandkreis an Schulen unterrichtet. Eltern protestierten wiederholt dagegen. (↪ LVZ, 05.08.)

Hintergrund

Der sächsische Innenminister Roland Wöller (CDU) hat innerhalb der schwarz-rot-grünen Landesregierung eine Änderung des Verfassungsschutzgesetzes angeregt. So soll es dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) künftig ausdrücklich gestattet werden, auch über sogenannte Verdachtsfälle zu berichten. Das war in einigen Fällen auch bisher geschehen, doch im Hinblick auf die AfD argumentieren Behörde und Innenministerium seit geraumer Zeit, dass für Auskünfte zu Verdachtsfällen eine explizite Rechtsgrundlage fehlt. Innerhalb der Koalition wurde der Reformvorschlag verhalten aufgenommen, teils gibt es weitreichendere Vorstellungen für einen Umbau des LfV. Es war zuletzt im Zusammenhang mit der Speicherung von Daten einiger AfD-Abgeordneter in die Kritik geraten. (↪ FP, 04.08., ↪ Sächsische, 05.08.)


 Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, hat vor Gericht eingeräumt, gemeinsam mit dem Mitangeklagten Markus Hartmann an Versammlungen der rechten Szene in Sachsen teilgenommen zu haben, unter anderem in Chemnitz. Das ergibt sich aus einer geständigen Einlassung Ernsts, die sein Verteidiger am Mittwoch während der Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Frankfurt verlas. Bereits Anfang Juli, am vierten Verhandlungstag und damit zu Beginn der Beweisaufnahme, war das Video einer polizeilichen Vernehmung aus dem Februar vorgespielt worden. Darin machte Ernst noch weitergehende Angaben: Demnach habe er gemeinsam mit Hartmann am 1. September 2018 an einem von der AfD angemeldeten und gemeinsam mit Pegida durchgeführten „Trauermarsch“ in Chemnitz teilgenommen. Auf der Auto-Rückfahrt nach Hessen soll der Entschluss gefallen sein, Lübcke etwas anzutun. Bereits zuvor habe er mit Hartmann erwogen, dass man bei dem Politiker „vorbeifahren“ müsse, um ihn einzuschüchtern. Nach dem Aufmarsch in Chemnitz stand dann jedoch endgültig fest, „dass wir das machen.“ Lübcke wurde am 1. Juni 2019 erschossen. Schon länger bekannt war, dass sich Ernst und Hartmann, die beide der hessischen Neonaziszene entstammen, für die AfD engagierten. Auch die Teilnahme in Chemnitz ist schon länger durch Film- und Videomaterial belegt, wurde über Ernsts bisherigen Verteidiger Frank Hannig aber wiederholt bestritten. Hannig wurde inzwischen durch das Gericht entpflichtet, nachdem er Anträge ohne Rücksprache mit seinem Mandanten gestellt und ihm durch seine Verteidigungsstrategie womöglich geschadet hat. Der Dresdner Strafverteidiger ist als „Pegida-Anwalt“ bekannt, da er mithalf, den Trägerverein des rassistischen Protestbündnisses zu gründen. Zudem engagiert er sich in der sächsischen Landeshauptstadt kommunalpolitisch für die „Freien Wähler“ (FW). Die Zusammenarbeit mit Hannig war vor wenigen Wochen ein Grund für den FW-Bundesvorstand, den sächsische Landesvorsitzenden Steffen Große seines Amtes zu entheben. Der Vorwurf: „Verbindungen und Überschneidungen mit dem rechtsextremen Milieu“. (↪ MDR, 05.08.)


Die sachsen-anhaltische Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg hat ein Ermittlungsverfahren gegen mehrere mutmaßliche Mitglieder einer „Prepper“-Gruppe aufgenommen, die sich aus Anhängern der Leipziger Burschenschaft „Germania“ rekrutierte. Die Gruppe, die über Verbindungen zum Reservistenverband der Bundeswehr und auch zur AfD verfügte und ab Herbst 2015 für einen „Rassenkrieg“ rüstete, war durch Recherchen der TAZ, des Rechercheportal Sachsen-Anhalt rechtsaußen und idas (hier und dort) aufgeflogen. Mit Mittelpunkt des neuen Verfahrens stehen Verstöße gegen das Waffengesetz und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Unter anderem wird geprüft, ob es zu illegalen Schießübungen auf einer stillgelegten Schießanlage in Jüdenberg (Landkreis Wittenberg) kam. Die Ermittlungen werden durch das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt geführt, und zwar unter Zeitdruck, da eine Verjährung droht. Parallel hat die Staatsanwaltschaft Leipzig in Zusammenarbeit mit dem LKA Sachsen sogenannte Vorermittlungen veranlasst. Eine Entscheidung, auch hier ein förmliches Ermittlungsverfahren einzuleiten, steht noch aus. Zuletzt war bekannt geworden, dass ein „Germania“-Mitglied einen Angriff auf die Eltern einer Landtagsabgeordneten angeregt hat, der sich später tatsächlich ereignete. Einer der Empfänger der E-Mail, in der die Idee entwickelt wurde, war Axel Knoll, ein sogenannter Alter Herr der „Germania“. Er arbeitete damals und noch bis vor kurzem bei der Staatsanwaltschaft Leipzig. Inzwischen ist er Richter am Landgericht Leipzig. (↪ TAZ, 05.08., ↪ MZ, 05.08., ↪ MDR, 05.08., ↪ MDR, 06.08.)

Fokus: AfD und der Neukölln-Komplex

Im Zuge der Ermittlungen zu einer neonazistischen Anschlagsserie in Berlin-Neukölln sind am Mittwoch der ermittelnde Staatsanwalt S. und dessen Vorgesetzter Matthias Fenner „wegen des Verdachts der Befangenheit“ von dem Fall abgezogen und versetzt worden. Diese überraschende Entscheidung traf die Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers, ihre Behörde wird nunmehr sämtliche Fälle aus dem sogenannten Neukölln-Komplex an sich ziehen. Hintergrund sind bislang unbeachtet gebliebene Informationen in den Ermittlungsakten: Demnach wurde im März 2017 bei einer Telefonüberwachung ein Chatgespräch zwischen dem Neonazi Sebastian Thom (NPD) und dem damals bei der AfD aktiven Tilo Paulenz aufgezeichnet, die bis heute als Hauptverdächtige gelten. Paulenz soll gegenüber Thom angedeutet haben, dass Oberstaatsanwalt Fenner, der zuletzt die Staatsschutz-Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft leitete, bei den Ermittlungen nichts unternehmen werden. Dies habe Fenner ihm am Rande eines anderen Strafverfahrens versichert und sich dabei als AfD-Wähler zu erkennen gegeben.

Erwiesen ist das nicht, aber tatsächlich hatte Fenner zuvor Paulenz vernommen, als Zeugen nach einer Auseinandersetzung bei einem AfD-Infostand. Der für den Neukölln-Komplex zuständige Staatsanwalt S. soll die kompromittierenden Chatnachrichten gekannt, aber nichts unternommen haben. Auch ermittelnde Beamt*innen der Berliner Polizei sollen die Informationen nicht an Vorgesetzte weitergereicht haben. Stattdessen erstellte das Berliner LKA wesentlich später – im September 2019 – einen sogenannten Auswertebericht, in dem der Vorgang kurz erwähnt wird. Die Anwältin eines Betroffenen erhielt diesen Vermerk im Zuge einer Akteneinsicht, die Berliner Staatsanwaltschaft verweigerte aber die Herausgabe der Originalprotokolle. Daraufhin beschwerte sich die Anwältin bei der Generalstaatsanwaltschaft, die erst dadurch von dem Vorgang erfahren hat und nun umgehend eingeschritten ist.

Im Neukölln-Komplex wird wegen insgesamt 72 rechtsmotivierter Taten ermittelt, darunter 23 Brandstiftungen, die vor allem von Mai 2016 bis Mitte 2017 begangen wurden. Die Tatserie hielt aber noch bis Frühjahr 2019 an und richtete sich vor allem gegen Politiker*innen sowie gegen Personen, die sich gegen die extreme Rechte engagieren. Obwohl konkrete Verdächtige bekannt sind, stocken die Ermittlungen seit Jahren, Zweifel an der Professionalität der Behördenarbeit sind daher nicht neu. So erfuhr der Berliner Verfassungsschutz Anfang 2018 von Anschlagsplänen gegen den Linke-Politiker Ferat Kocak und weihte die Polizei ein. Beide Behörden informierten den Betroffenen aber nicht, dessen Auto kurz darauf abgebrannt wurde. Bei späteren Durchsuchungen wurde bei Sebastian Thom eine Festplatte beschlagnahmt, die zunächst nicht ausgewertet wurde, weil man sie für verschlüsselt hielt. Wie spätere Recherchen ergaben, war der Datenträger nicht verschlüsselt, sondern zahlreiche Daten lagen bloß im Papierkorb. Darunter befand sich auch eine Feindesliste mit Angaben zu rund 500 Personen, die teils gezielt ausgespäht worden sind.

Zuletzt war im Juni war bekannt geworden, dass der Berliner Polizeihauptkommissar Detlef M., der AfD-Mitglied ist, dienstinterne Erkenntnisse, darunter Informationen zum Anschlag am Breitscheidplatz im Dezember 2016, in einer Chatgruppe verbreitet haben soll. Mitglied der Chatgruppe war unter anderem auch Tilo Paulenz, der sich damals im Bezirksvorstand der Neuköllner AfD engagierte. Paulenz hat die Partei inzwischen verlassen und ist damit einem Ausschlussverfahren zuvorgekommen. (↪ Berliner Zeitung, 05.08., ↪ RBB, 06.08., ↪ Tagesspiegel, 06.08., ↪ Tagesspiegel, 06.08., ↪ LTO, 06.08., ↪ Berliner Morgenpost, 06.08.)