Im Streit um Verfassungsschutz-Unterlagen zu sächsischen AfD-Abgeordneten gibt es eine neue Wendung. Die Daten sollen nun doch nicht gleich verschwinden, sondern nochmals überprüft werden. Der neue Behördenleiter Dirk-Martin Christian rückt außerdem von einigen Vorwürfen gegen seinem Amtsvorgänger ab. Bei der Partei fühlt man sich dennoch bespitzelt – offenbar zu Unrecht.
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Christian will „alle Möglichkeiten ausschöpfen“
Überraschende Wende im Datenskandal beim sächsischen Verfassungsschutz: Die Behörde will Unterlagen zu AfD-Abgeordneten zunächst doch nicht vernichten, sondern weiter auswerten. Das gab Dirk-Martin Christian, der neue Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), am Montag bekannt. Die umstrittene Datensammlung der Behörde über vier Landtags-, drei Bundestags- und einen Europaabgeordneten soll demnach erneut „auf ihren rechtlichen Bestand überprüft“ werden.
Damit wird sich über die parlamentarische Sommerpause hinweg eine eigens eingesetzte und um besonders qualifiziertes Personal aufgestockte „Arbeitsgruppe AfD/Flügel“ befassen. „Erst dann wird über eine Löschung der Daten abschließend zu entscheiden sein“, sagte Christian. Das LfV werde bis dahin „alle zulässigen Möglichkeiten ausschöpfen, um bestehende Bezüge zwischen der AfD und dem rechtsextremistischen Flügel aufzuspüren und nachzuweisen“. Der Behördenleiter begegnet damit Bedenken, wonach in Sachsen die Beobachtung verfassungsfeindlicher Strukturen in der AfD vor dem kompletten Aus stehen könnte. Es handelt sich zudem um eine volle Abkehr von dem harschen Tonfall, der in der letzten Woche angeschlagen worden ist.
Erst am vergangenen Mittwoch war der bisherige LfV-Präsident Gordian Meyer-Plath abberufen und durch Christian ersetzt worden, der bisher im Innenministerium für die Fachaufsicht über den Nachrichtendienst zuständig war. Wie die Sächsische Zeitung berichtete, soll dem Personalwechsel ein heftiger Disput vorausgegangen sein, der Anfang Juni darin gipfelte, dass Christian mit Rückendeckung von Innenminister Roland Wöller (CDU) die Löschung umfangreicher Unterlagen verlangte. Die Rede ist von mehr als 1.000 Einzeldokumenten, die auf Geheiß des Innenministeriums verschwinden sollten. Meyer-Plath versuchte sich zu widersetzen, bis er schließlich abberufen wurde.
Flügel-Nachweis „in Einzelfällen“ erbracht
Daraufhin hatten Christian und Wöller am vergangenen Donnerstag im Innenausschuss des Landtages und bei einer anschließenden Pressekonferenz zum Gegenschlag ausgeholt und den geschassten LfV-Chef Meyer-Plath schwer belastet. Unter ihm habe die Behörde den „Boden des geltenden Rechts“ verlassen und „widerrechtlich Daten über frei gewählte Abgeordnete gespeichert“, von „Verfassungsbruch“ war gar die Rede. Doch darin ist man sich inzwischen nicht mehr sicher. Der Nachweis, dass sächsische AfD-Abgeordnete zum Flügel gehören, sei „in Einzelfällen“ durchaus erbracht, heißt es jetzt.
Einziger handfester Vorwurf an Meyer-Plath bleibt einstweilen, dass er in der Behörde einen Leitfaden des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) nicht angewandt haben soll. In dieser Handreichung gab das BfV in Absprache mit dem Bundesinnenministerium allen Landesämtern konkrete Empfehlungen, wie mit personenbezogenen Daten von Abgeordneten zu verfahren ist. Sie sind durch ihre Mandate vor einer Beobachtung durch Verfassungsschutzbehörden weitgehend geschützt, Unterlagen zu solchen Personen dürfen nur unter strengen Bedingungen gespeichert werden. Meyer-Plath soll es nicht gelungen sein, in jedem Fall zu begründen, warum eine weitere Speicherung notwendig ist. Außerdem soll er Aufforderungen des sächsischen Innenministeriums, die Daten mit weiteren Belegen zu unterfüttern, nicht nachgekommen sein.
Das möchte man nun unter neuer Regie erneut versuchen. Christian wird daher den Löschbefehl, den er selbst erteilt hat, zunächst nicht ausführen. Mit den immer noch verworrenen Hintergründen befasste sich gestern auch die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) des Landtags. Das Gremium kontrolliert das LfV, es tagt geheim, jede Fraktion ist mit einer Abgeordneten vertreten. Mehrere von ihnen hatten die Sondersitzung in der vergangenen Woche beantragt, nachdem sie von den außerordentlichen Vorgängen aus der Zeitung erfahren mussten.
Auswertung entsprach nicht fachlichen Standards
Die PKK-Mitglieder konnten gestern erstmals die umfangreichen Korrespondenzen der vergangenen Monate einsehen, die den Disput zwischen Behörde und Ministerium dokumentieren und auf die sich Medienberichte stützen. Was genau in den Unterlagen steht, bleibt Verschlusssache. Auch für die anschließende Beratung der Abgeordneten gilt Stillschweigen. Klar ist nur: Sie debattierten bis in den frühen Abend hinein, rund fünf Stunden lang, im Beisein Wöllers und Christians. Am Ende gaben die Abgeordneten eine gemeinsame Erklärung ab.
Wichtigste Botschaft: AfD-Abgeordnete wurden nicht bespitzelt, sogenannte nachrichtendienstliche Mittel kamen nicht zum Einsatz. Stattdessen wurde „durch das LfV lediglich öffentlich zugängliches Datenmaterial“ – also beispielsweise Facebook-Beiträge – „erhoben und ausgewertet“. Das Problem soll in der Auswertung gelegen haben, die „im fraglichen Fall den fachlichen Standards der Behörden im Verfassungsschutzverbund nicht entsprochen hat.“ Insbesondere sei die Belegführung nicht besonders sorgfältig gewesen, sondern so schludrig, dass daraus „die Rechtswidrigkeit der fortdauernden Datenspeicherung“ folge. Nur zwei Möglichkeiten sieht man hier: Entweder es kommen neue Belege hinzu – oder die Unterlagen müssen weg.
Dafür will die PKK die Ergebnisse der „Arbeitsgruppe AfD/Flügel“ abwarten und erst dann eine abschließende Bewertung vornehmen. Allerdings ist es bereits ungewöhnlich, dass die PKK-Mitglieder überhaupt ein öffentliches Statement abgeben. Zuletzt war das vor gut zwei Jahren passiert. Damals ging es um einen schweren Sicherheitsverstoß im Amt, als ein Mitarbeiter versuchte, sensible Personaldaten auf einem USB-Stick herauszuschmuggeln. Seinerzeit monierte das Gremium, erst verspätet von dem Vorfall informiert worden zu sein. Die gleiche Kritik übt man auch jetzt. Sie richtet sich vor allem an die Adresse des Innenministers, der in den vergangenen Tagen offenbar auch innerhalb der Koalition viel Vertrauen verspielt hat.
AfD fühlt sich bespitzelt
Zudem kommen die Vorgänge der AfD zupass. Fraktionschef Jörg Urban sprach bereits in der vergangenen Woche von einer „illegalen Ausspähung“ und kündigte Klagen an. Gestern legte er nach mit der Behauptung, Daten seien „illegal erhoben“ worden, und er säte Zweifel, dass es sich lediglich um „frei zugängliche Meinungsäußerungen“ handelte, die in die LfV-Dossiers eingegangen sind. Der AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla ging inzwischen noch weiter. In einem Interview gab er an, „abgehört“ worden zu sein. Das alles entspricht, so viel man aktuell weiß, nicht den Tatsachen.
Das weiß der AfD-Landtagsabgeordnete Carsten Hütter genau, denn er ist Mitglied der PKK und trägt auch deren gemeinsame Erklärung mit, wonach das LfV die in Rede stehenden Daten durchaus rechtskonform erhoben hat. Hütter saß gestern noch in der geheimen Sitzung, als in seinem Namen eine Pressemitteilung ausgesandt wurde. Auch darin wird nun fälschlich behauptet, dass man Abgeordnete der AfD „illegal ausgespäht“ habe.
Hütter fordert nun sogar die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Landtag. Das ist theoretisch möglich, setzt aber voraus, dass der Vorgang, den man untersuchen möchte, abgeschlossen ist. Vor dem Herbst wird das nicht der Fall sein. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich bis dahin die Umstände nochmals wandeln. Denn in absehbarer Zeit will das BfV entscheiden, ob nicht die gesamte AfD zum Verdachtsfall hochgestuft wird. Dirk-Martin Christian kündigte an, mit dem Bundesamt voll zu kooperieren.