Der AfD-Datenskandal eskaliert: Nach der Abberufung des sächsischen Verfassungsschutz-Präsidenten Gordian Meyer-Plath lassen sein Nachfolger Dirk-Martin Christian und Innenminister Roland Wöller kein gutes Haar an ihm. Das Amt wird die Beobachtung von Teilen der Partei womöglich ganz aufgeben – Spuren des Flügels kann oder will es nicht finden.
↓
Schwere Vorwürfe des Ex-Präsidenten
Dirk-Martin Christian, seit Mittwoch der neue sächsische Verfassungsschutz-Präsident, hat sich den Einstand im Amt ganz anders vorgestellt. Er wollte sich zunächst in den Abteilungen und Fachreferaten der Behörde mit ihren rund 200 Mitarbeiter*innen vorstellen und dann an einem Konzept zur Neuausrichtung der gemeinsamen Arbeit feilen. Stattdessen kam er nicht einmal dazu, sein neues Dienstzimmer zu betreten.
Grund ist ein Bericht der Sächsischen Zeitung, der am Mittwoch erschienen ist, einen Tag, nachdem die Abberufung von Gordian Meyer-Plath und der Wechsel an der Spitze des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) kurzfristig bekannt gegeben wurde. Kernpunkt der Medienrecherche: Der neue Präsident soll, als er noch im Innenministerium für die Rechtsaufsicht über den Nachrichtendienst zuständig war, auf die Löschung von Daten gedrängt haben, die insgesamt acht sächsische AfD-Abgeordnete betreffen. Mehr als 1.000 Dokumente sollten demnach vernichtet werden.
Doch Meyer-Plath soll sich widersetzt und bei Innenminister Roland Wöller (CDU) beschwert haben aus Sorge, „in einem der dynamischsten Felder des modernen Rechtsextremismus“ handlungsunfähig zu werden. Es entstehe dadurch der Eindruck, dass man in Sachsen die Auseinandersetzung mit der AfD „nur sehr nachlässig wahrnimmt“. Böse Ahnungen schlossen sich an: Bremst man den Verfassungsschutz ausgerechnet bei der Bekämpfung der extremen Rechten aus? Wird ein Behördenleiter abgesägt, weil er Teile der AfD beobachten wollte, wie es im Bund und allen anderen Bundesländern inzwischen Praxis ist? Will man künftig die AfD in einem Bundesland, in dem sie stärker ist als irgendwo sonst, einfach gewähren lassen?
Die andere Geschichte
Auf die Empörungswelle am Mittwoch folgte eine Gegenoffensive am Donnerstag. Wöller und Christian erschienen zunächst im Landtag, wo sich der Innenausschuss traf. Sie erzählten den Abgeordneten hinter verschlossenen Türen eine völlig andere Geschichte: Demnach habe das LfV unter Meyer-Plath vor rund einem Jahr begonnen, Informationen zu einer Reihe von AfD-Mitgliedern zu sammeln, darunter auch namhafte Funktionsträger*innen und solche, die in den Landtag, den Bundestag und das Europaparlament gewählt worden sind.
Damit begannen die Probleme, denn für die Ausforschung von Abgeordneten gelten besondere rechtliche Hürden, in jedem Einzelfall muss stichhaltig begründet werden, warum die Daten benötigt und aufbewahrt werden. Das Fachaufsichts-Referat im Innenministerium, in dem Christian zuständig war, habe daher von Meyer-Plath über Monate hinweg zusätzliche Informationen angefordert, also möglichst belastbare Belege dafür, dass die Abgeordneten, um die es geht, tatsächlich die verfassungsmäßige Ordnung bekämpfen.
Solche Beweise seien aber nie geliefert worden. Seit April war der Innenminister darüber voll im Bild, Ende Mai sei man endgültig zu dem Schluss gelangt, dass die Daten unrechtmäßig gespeichert seien. Anfang Juni habe man daher von Meyer-Plath die Löschung verlangt, ja von Rechts wegen sogar verlangen müssen. Das Bild, das Wöller und Christian vom geschassten Amtspräsidenten Meyer-Plath zeichneten, war drastisch – es war das eines Rechtsbrechers, der Daten von Abgeordneten illegal angehäuft hat, trotz energischer Bedenken und klarer Anweisungen.
Meyer-Plath öffentlich gerichtet
Nach einer kurzen Pause machten Wöller und Christian diese Sicht auch öffentlich, bei einer Pressekonferenz im Innenministerium. „Das Landesamt für Verfassungsschutz hat widerrechtlich Daten über frei gewählte Abgeordnete gespeichert“, sagte der Minister und fällte damit ein weitreichendes Urteil über die Behörde, für die er verantwortlich ist. Bei der Arbeit des LfV gebe es „Luft nach oben“, führte er weiter aus. Er habe es daher als eine dringende Aufgabe angesehen, „korrigierend einzugreifen“, damit die Behörde „auf den Boden des geltenden Rechts“ und „zur Redlichkeit in der Amtsführung“ zurückkehren könne.
Der Unterton war kaum zu überhören: Über längere Zeit wäre das Amt demnach völlig außer Kontrolle geraten – die Schuld von Meyer-Plath, eines unredlichen Präsidenten, der seine Pflichten verletzt und Recht gebrochen habe. Selten wurde in Sachsen ein hoher Beamter in dieser Schärfe nicht nur öffentlich kritisiert, sondern vor versammelten Medien regelrecht gerichtet. Wer einen Vergleich sucht, muss länger zurückgehen, zu den Versuchen der Landesregierung, den Sachsensumpf-Skandal abzuwürgen und diejenigen zu kriminalisieren, deren Job es war, Belege zu sammeln.
Die Vorwürfe Meyer-Plaths, auf die sich dich Sächsische Zeitung bezieht, seien allesamt „völlig haltlos und unbegründet“, ist sich Wöller gleichwohl sicher. „Es kann keine Rede davon sein, dass der Verfassungsschutz blind und stumm gemacht zu werden droht.“ Der Minister prangert vielmehr die „gezielte Indiskretion“ an, durch die unangenehme Details ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden. Daher habe man wegen des Verdachts des Verrats von Dienstgeheimnissen – Meyer-Plaths Korrespondenz mit dem Innenministerium ist als „Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft – von Amts wegen eine Strafanzeige gestellt. Auf die Frage von Journalist*innen, ob man Meyer-Plath selbst verdächtige, nickten Wöller und Christian, um gleich darauf richtigzustellen: das Verfahren laufe erst einmal „gegen „Unbekannt“.
Warum erst so spät eingeschritten?
Für Dirk-Martin Christian war es der erste öffentliche Termin überhaupt. Er versicherte gleich, dass „der entschiedene Kampf gegen Rechtsextremismus ein klarer Schwerpunkt“ des Amtes bleiben werde, das er ab sofort anführt. „Auf die Frage, ob bestimmte politische Ergebnisse gewünscht sind, kann es dabei nicht ankommen“, schob er nach. Niemand dürfe „an den Pranger gestellt werden“, wenn nicht genügend Beweise vorliegen. In diesem Bereich sieht er „grundlegenden Optimierungsbedarf“ und verspricht für die Zukunft mehr „Analysefähigkeit“ beim Nachrichtendienst.
Das war schon einmal ein zentrales Schlagwort gewesen, als es um die Reform des LfV ging, vor fast genau acht Jahren, als man die Führungsspitze infolge des NSU-Skandals ausgetauscht hat. Derjenige, der alles besser machen sollte, war Meyer-Plath gewesen. Glaubt man Christian, hat sein Vorgänger dabei versagt. Im Fall der AfD-Daten habe er selbst „mehrfach Belege und Beweise eingefordert“, die man braucht, um eine weitere Speicherung zu begründen. Aber was Meyer-Plath zulieferte, habe nicht die „erforderliche Qualität“ gehabt. Zuletzt habe die Behörde sogar „von sich aus erklärt, sie unternehme nichts“, um dem Ministerium entgegen zu kommen.
Damit war der Konflikt nicht mehr zu lösen, „die Gesetzessprechung lässt da kein Ermessen zu“, sagt Christian, von Hause aus Jurist. Wöller fühlt sich nachträglich bestätigt, dass ein schon länger vorgesehener Wechsel an der Amtsspitze „mehr als notwendig“ gewesen sei. Allerdings: Wenn das LfV über einen langen Zeitraum so eindeutig rechtswidrig vorgegangen sein sollte, warum ist man dann nicht eher eingeschritten? Im Innenministerium war Christian zuständig, die politische Verantwortung trägt Wöller. Aus Sicht von Meyer-Plath war man zu unterschiedlichen Bewertungen über den Status der Datensammlung gekommen. Seinen Vorschlag, ein externes Gutachten einzuholen, um die strittigen Rechtsfragen zu klären, griff man nicht auf.
Informationen sind nicht einmal geheim
Im Vergleich zu den Ausmaßen, den der Skandal sofort angenommen hat, sind die Daten, um die es geht, vermutlich wenig spektakulär. So weit bisher bekannt wurde, hat das LfV keineswegs sächsische Abgeordnete bespitzelt, sogenannte nachrichtendienstliche Mittel kamen gar nicht erst zum Einsatz. Stattdessen hat man Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammengetragen, etwa Beiträge in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter. Dem Vernehmen nach achtete man dabei durchaus darauf, alles auszulassen, was die parlamentarische Arbeit betrifft.
Ebenfalls wurden, wenn auch in kleinerem Umfang, Unterlagen gespeichert, die andere Behörden zugeliefert haben, einzelne Polizeimeldungen etwa sowie Dossiers des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), zu denen die sächsische Behörde selbst beigetragen hatte und mit deren Hilfe begründet worden ist, warum die AfD als Prüffall und der völkisch-nationalistische Flügel inzwischen als Beobachtungsobjekt anzusehen ist. Das alles soll wieder verschwinden, auch wenn es sich wohl nicht um Staatsgeheimnisse handelt.
Ohne diese Unterlagen, so hatte es Meyer-Plath in der Vergangenheit gegenüber dem Ministerium zu bedenken gegeben, falle man Jahre zurück, müsse man die Beobachtung des Flügels in Sachsen de facto aufgeben, obwohl er hier besonders stark ist. Man weiche damit außerdem von Vorgaben des BfV ab. Wöller und Christian widersprechen auch in diesem Punkt und bezichtigen vielmehr Meyer-Plath, sich nicht an Leitfäden gehalten zu haben, die das BfV den Landesämtern an die Hand gegeben hatte, um einen rechtlich sauberen Umgang mit Daten von Abgeordneten zu finden.
Sachsen erkennt den Flügel nicht
Christian bestreitet denn auch vehement, dass man in Sachsen beim Umgang mit der AfD eine „andere Linie“ fahre als andere Behörden. Doch daran gibt es Zweifel: Der neue Präsident sprach gestern ausdrücklich davon, dass die fraglichen Daten seiner Auffassung nach allesamt der „Prüffallphase“ zuzuordnen seien, in der man „ersten vagen Anhaltspunkten“ nachgehe und schlicht „Zeitung liest und ins Internet schaut.“ Wenn da nichts herauskomme, das gerichtsfest ist, müsse man „die Finger davon lassen“. Das bedeutet, dass das LfV Sachsen bislang nicht in der Lage ist nachzuweisen, wer in Sachsen dem Flügel zugerechnet werden kann.
Christian sprach im Hinblick auf den Flügel gar von „Geschichten, die man in den Medien so liest“. Sollte das Amt in diesem Punkt wirklich blank sein, wäre das durchaus so etwas wie ein Sonderweg. Das Bundesamt hatte die Gangart zuletzt immer weiter verschärft, die Landesämter folgen. Noch in diesem Jahr wird eine Neueinschätzung durch den Bund erwartet. Nicht ausgeschlossen ist, dass dann die AfD als Gesamtpartei zum Verdachtsfall hochgestuft wird – sie selbst rechnet bereits damit. Die Frage, wie es um die Beobachtung der AfD in Sachsen bestellt ist, wollte Christian gestern nicht beantworten, denn die Informationslage „kann sich ja täglich ändern“.
Jetzt im Moment, so darf man es wohl deuten, kann von „Beobachtung“ keine Rede sein. Das freut einzig die AfD, die bereits mit Klagen droht und sich einmal mehr selbst zum Thema machen kann. Fraktionschef Jörg Urban, der nach der nunmehr makulierten Ansicht des Amtes womöglich ein „Rechtsextremist“ ist, spricht in einer Pressemitteilung davon, wie Meyer-Plath „nachweislich mit rechtswidrigen Methoden die Opposition drangsalierte“. Diesen Nachweis hat allerdings noch niemand erbracht. Die Darstellungen sind völlig konträr und schwer aufzulösen ohne nähere Kenntnis der Unterlagen, um die es geht.
Thema für Kontrollkommission
Ohnehin ist der große Knall, der den Wechsel an der Amtsspitze begleitet, nicht allein auf das Thema AfD zurückzuführen. Dass das Verhältnis von Wöller und Meyer-Plath schon länger getrübt war, weiß man auf Dresdner Behördenfluren nur zu gut. Einer der tiefen Risse entstand im August 2018 im Zuge der rassistischen Mobilisierung nach Chemnitz, als das LfV warnte, dass kurzfristig Neonazis in vierstelliger Zahl in der Stadt erscheinen könnten. Die Polizei ignorierte das und ermöglichte damit rechte Übergriffe in erheblicher Zahl. Im Nachhinein gab das Innenministerium dem Verfassungsschutz die Schuld. Wöller konnte so Ansehen im Polizeiapparat gewinnen, aus dem heraus er wiederholt kritisiert worden war.
Ein weiterer, alter Zankapfel ist Pegida. Nach jahrelangem Ringen erklärte das LfV das rassistische Protestbündnis Ende 2019 zum Verdachtsfall. Man hinkte damit den Entscheidungen anderer Bundesländer, sämtliche Ableger der Protestserie unter Beobachtung zu nehmen, fast schon ein halbes Jahrzehnt hinterher. Aber auch diesen geringen Fortschritt in Sachsen machte der Innenminister vor kurzem wieder zunichte und verlangte vom LfV, die Einstufung zurückzunehmen. Auch an diesem fragwürdigen Schritt war der neue Behördenchef Christian beteiligt. Gestern führte er dazu aus, dass man die Sache „vom Ende her“ denken müsse: Pegida hätte gegen die Einstufung klagen können. Diese Möglichkeit besteht freilich immer, ganz egal, wie solide die Begründung der Behörde ist.
Neue Antworten auf einige Fragen könnte es am Montag geben, bei einer Sondersitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK), die im Landtag für die Kontrolle des Verfassungsschutzes zuständig ist. Sie tagt geheim, hat aber Untersuchungskompetenzen und kann öffentliche Erklärungen abgeben. Dem Vernehmen nach waren es Mitglieder der Koalition, die sich für die kurzfristige Einberufung des Gremiums stark gemacht haben. Sie wollen die Korrespondenzen Meyer-Plaths mit dem Innenministerium sehen, mit denen der Skandal seinen Lauf nahm, und bekommen möglicherweise auch das Datenkonvolut zur AfD zu Gesicht – falls es bis dahin nicht schon vernichtet worden ist. Das könnte Christian als neuer Präsident einfach selbst umsetzen.
AfD freiwillig unterschätzt
Die Kommissionsmitglieder, so ist zu hören, wundern sich noch aus anderen Gründen: Sie erinnern sich nicht, über den offenbar über Monate hinweg eskalierenden Konflikt mit dem Ministerium informiert worden zu sein. Wer sich weiter umhört, stößt dieser Tage auf viele Akteur*innen in der Landespolitik, die weder die Position des Ex-Präsidenten, noch die gegenteiligen Auffassungen seines Nachfolgers und des Ministers mit ihren bisherigen Eindrücken in Deckung bringen können. Es fehlt offenbar ein guter Teil dieses schlechten Films.
Der Skandal in Sachsen könnte zudem bald auf die Bundespolitik überschwappen. Die Vorstellung des Verfassungsschutzberichts des BfV steht nämlich an, bereits in der kommenden Woche könnte es so weit sein. Das BfV, so viel ist klar, wird in dem Bericht auf jeden Fall über den Flügel berichten. Die Partei hatte versucht, das auf gerichtlichem Weg zu unterbinden, doch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg fällte in einem Eilverfahren kürzlich ein eindeutiges Urteil.
Demnach widerspräche es „der Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzberichts, Quellen zu ignorieren bzw. nicht auszuwerten, nur weil sie bestimmten Vertretern des als Verdachtsfall erkannten Personenzusammenschlusses zuzurechnen sind.“ Würde man zugängliche Angaben ignorieren, hieße das, „das Ausmaß möglicher Gefährdungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch extremistisches Potenzial in quantitativer Hinsicht zu unterschätzen“. Außerhalb Sachsens schüttelt man den Kopf, wie man darauf kommen kann, die AfD freiwillig zu unterschätzen.