Gaulands Axt

Mit dem Kalbitz-Urteil hätte die Krise der AfD abklingen können. Doch weit gefehlt: Bisher beharkten sich Funktionär*innen und deren Netzwerke, stritten mal um Prinzipien, mal um Einfluss, oft um beides zugleich. Nachdem die Gräben immer tiefer wurden, richtet sich der Flügel-Furor nun gegen das Schiedsgericht. Ausgerechnet Alexander Gauland führt den frontalen Angriff auf die eigenen Institutionen an – erstmals in der Geschichte der Partei.

Flügel spricht von „Schauprozess“

Die Laune kann schnell kippen in der AfD. Andreas Kalbitz war nach eigenen Angaben „zuversichtlich“, bevor am Samstag das Bundesschiedsgericht seinen Fall verhandelte. Als er die Sitzung wieder verließ, lobte er die „sehr ruhige, sehr sachliche Atmosphäre“. Er lächelte breit, ahnte aber bereits, dass er verloren hat. „Es kann auch eine falsche Entscheidung gefällt werden“, sagte er und nahm aus seiner Sicht vorweg, was wenig später beschlossene Sache war: Er gehört der Partei nicht mehr an. Der Beschluss des Bundesvorstands von Mitte Mai, seine Mitgliedschaft zu annullieren, hat also Bestand.

„Erwartbar“ nannte er die Entscheidung und alles andere als überraschend, „wenn man die politischen Mehrheitsverhältnisse im Schiedsgericht kennt“. Er bedauere, „dass politische Erwägungen hier den Vorrang hatten“. Kalbitz akzeptiert das Urteil nicht, wird vor ein staatliches Gericht ziehen – und ist schon wieder „zuversichtlich“, die Rückkehr in die Partei erzwingen zu können. Seitdem hat sich der 47-Jährige nicht mehr zu Wort gemeldet, und zunächst schien es so, als hätte es auch vielen anderen die Sprache verschlagen. Das war bisher anders gewesen, die Abwicklung des Flügels zog sofort Kampfansagen nach sich und eine Solidaritätswelle, aus der vor allem eine Diffamierungskampagne gegen den Parteivorsitzenden Jörg Meuthen wurde. Er war es gewesen, der mit einer knappen Mehrheit durchgesetzt hatte, dass Kalbitz gehen muss – und der nun, nach lauten Zweifeln und harten Widerständen im eigenen Vorstand, die Oberhand gewann.

Das Wochenende klang aus, als wäre der Konflikt damit erledigt. Grundsätzliche Widerworte gab es nur vereinzelt: Die brandenburgische Junge Alternative erklärte, dass die Verhandlung ein „Schauprozess“ gewesen sei, und bezeichnete die neun Mitglieder des Schiedsgerichts als „Befehlsempfänger einer parteiinternen Clique“. Björn Höcke stellte einen kurzen Videoclip online, sprach darin von der „Willkür des Bundesschiedsgerichts“, das insgeheim nicht unabhängig sei. Und die Alternative Basis, ein inoffizielles Flügel-Sprachrohr, bezichtigte die Richter*innen kurz darauf, „willfährig dem Plan der Parteispalter um Jörg Meuthen und seiner Vorstandsclique“ gefolgt zu sein. Die Verantwortlichen sind korrumpiert, so soll man das verstehen, und das Urteil gezinkt.

Gauland verdammt das Schiedsgericht

Inzwischen ist klar, dass es sich nicht nur um die Auffassung des unterlegenen Kalbitz und seiner enttäuschten Gefolgsleute handelt, die in den vergangenen Monaten im voll entbrannten Machtkampf etliche Niederlagen einzustecken hatten. Denn mit Alexander Gauland nannte der Mitgründer und Ehrenvorsitzende der AfD Anfang der Woche das Urteil des Schiedsgerichts „falsch“. Gegenüber der Welt ließ er erkennen, dass er es nicht anerkennen werde, sondern sich „einzig und allein nach den Entscheidungen und Urteilen der ordentlichen Gerichtsbarkeit richten“ werde, die Kalbitz herbeiführen will. Es sei „um die Parteigerichtsbarkeit nicht gut bestellt“, fuhr Gauland fort, denn es gehe dort „offensichtlich um bestimmte politische Interessen, die hier aber nichts zu suchen haben dürfen.“

In den wenigen Sätzen steckt Zündstoff für eine lange Zeit. Gauland bezweifelt nicht nur, dass die am Samstag getroffene Entscheidung korrekt ist, sondern will sie auch nicht anerkennen. Er belässt es nicht bei einer Urteilsschelte, sondern bringt die Parteirichter*innen in Misskredit und mit ihnen das Bundesschiedsgericht als Ganzes. Dabei handelt es sich um das höchste gewählte Gremium der Partei, es hat in Streitfällen das letzte Wort. Doch in der Causa Kalbitz soll das nicht mehr gelten – einen vergleichbaren Angriff auf eine Institution der Bundespartei hat es in der Geschichte der AfD noch nicht gegeben.

Es ist bekannt, dass Gaulands Sicht parteiisch ist. Er stand dem Flügel stets nahe, stiftete ihm mit seiner Parole „Macht den rechten Flügel stark!“ den Namen. Oft wurde er als Kalbitz‘ politischer Ziehvater beschrieben und wandte sich energisch gegen den Beschluss, dessen Mitgliedschaft aufzuheben. Falls Kalbitz dagegen erfolgreich vorgeht, würde es „für diejenigen, die das losgetreten haben, schwierig“, hatte er gesagt und vor allem Meuthen gemeint. Zugleich war Gauland immer bemüht, als Vermittler aufzutreten, der nicht über allen Dingen, aber doch über den inneren Gegensätzen der AfD steht. Er gefiel sich in der Gestalt eines erhabenen Urkonservativen, der sich um den Bestand der Institutionen am allermeisten sorgt. Nun aber fällt er aus der Rolle, womöglich endgültig.

Urteilsgründe liegen noch gar nicht vor

Nach Gauland meldete sich Alice Weidel zu Wort, beide führen gemeinsam die AfD-Bundestagsfraktion an. Auch Weidel hatte gegen den Kalbitz-Ausschluss opponiert, weil dieser Schritt nicht ausreichend juristisch geprüft worden sei. Das jetzt ergangene Urteil bezeichnet sie gegenüber dem ZDF als den „nächsten Akt in einem parteiinternen Trauerspiel, dessen Ausgang völlig offen ist.“ Dem Spiegel sagte sie zudem, dass das Bundesschiedsgericht zwar „grundsätzlich“ großes Vertrauen genieße. Im vorliegenden Fall werfe die Entscheidung aber viele Fragen auf. So sei angeblich „nur noch“ ausschlaggebend gewesen, dass Kalbitz bei seinem Parteieintritt eine frühere Mitgliedschaft bei den „Republikanern“ verschwiegen hat. Dass er mutmaßlich auch der 2009 verbotenen Neonaziorganisation „Heimattreue deutsche Jugend“ (HDJ) angehörte, soll dagegen nicht als gesichert gegolten haben.

Die HDJ-Verbindung, bisher im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, soll keine Rolle mehr gespielt haben? Das ist zwar denkbar, doch Weidel kann das aus erster Hand nicht wissen, sie war bei der Verhandlung nicht dabei. Die Behauptung hatte zuerst Gauland in Umlauf gebracht, offenbar um das Urteil mit einem möglichst großen Fragezeichen zu versehen. Doch auch er hat an der Schiedsgerichtssitzung nicht teilgenommen. Die Verfahrensbeteiligten – Kalbitz eingeschlossen – haben solche detaillierten Angaben öffentlich weder selbst gemacht, noch bestätigt. Aus der Partei sind nicht einmal eindeutige Angaben zum Abstimmungsverhalten der Gerichtsmitglieder zu bekommen. Ein oder zwei davon sollen für Kalbitz votiert haben, zumindest bei Martin Braukmann gilt das als sicher. Dass vieles andere vage ist, liegt schlicht daran, dass eine schriftliche Urteilsbegründung bisher nicht vorliegt. Bis Mitte August könnte das noch dauern.

Gauland und Weidel kritisieren ein Urteil, das noch nicht niedergeschrieben wurde. Die kalkulierte Unredlichkeit schafft ihnen Raum für Spekulationen, die sich ausschlachten lassen, auch wenn sie kaum zutreffen mögen. So hatten sich die Streitparteien vorher einvernehmlich auf die Zusammensetzung des Gerichts geeinigt. Anders als üblich wurde der Fall durch die drei Kammern gemeinsam verhandelt, damit der Ausgang nicht davon abhängig ist, welchen Parteirichter*innen der Fall zugewiesen wird. Kalbitz machte keine Einwände gegen die Besetzung geltend und stellte die Rechtmäßigkeit des Gerichts, das er selbst eingeschaltet hatte, so wenig in Frage wie dessen Unabhängigkeit. Zweifel daran werden erst gesät, seit die ungenehme Entscheidung fiel.

Schiedsgericht wehrt sich

Meuthen wies die Kritik prompt zurück und nannte sie „komplett inakzeptabel“. Das Urteil anzugreifen weise auf ein „befremdliches Rechtsstaatsverständnis“ hin. Ähnlich äußerte sich der Co-Vorsitzende Tino Chrupalla: „Der Urteilsspruch ist zu akzeptieren“, obwohl auch er dem Kalbitz-Ausschluss kritisch gegenübergestanden hatte. Meuthen und Chrupalla haben inzwischen ein gemeinsames Mitgliederrundschreiben im Namen des Bundesvorstands verschickt. „Das Schiedsgericht und seine Entscheidungen sind zu respektieren, auch um den Parteifrieden zu wahren“, heißt es darin. Die aktuellen Anwürfe gegen das Bundesschiedsgericht weise man „in aller Deutlichkeit zurück“.

Das hat das Bundesschiedsgericht inzwischen auch selbst getan und damit ein weiteres Novum geschaffen. Alle neun beteiligten Richter – auch jene, die womöglich auf Kalbitz‘ Seite standen – haben einen Brief an Gauland verfasst. Darin weisen sie die „haltlosen Unterstellungen, die eines Ehrenvorsitzenden der AfD unwürdig sind, aufs Schärfste zurück“. Die Welt zitierte zuerst aus dem Schreiben, in dem ein unerwartet deutlicher Ton angeschlagen wird. So begebe sich Gauland mit seiner Reaktion „auf das peinliche Niveau vergleichbarer Äußerungen zum Beispiel der Herren Höcke, Kalbitz oder der JA Brandenburg herab“. Anders als behauptet hätten politische Erwägungen bei der Entscheidungsfindung keine Rolle gespielt. Wer etwas anderes behauptet, schade „wissentlich und willentlich der Reputation des Bundesschiedsgerichts und damit der ganzen Partei“.

Die Richter*innen werfen Gauland die „größtmögliche Beschädigung des Bundesschiedsgerichts“ vor und fragen ihn: „Wie wollen Sie eigentlich jemals wieder ernsthaft und glaubwürdig die Verstöße unserer politischen Gegner gegen die Rechtsstaatlichkeit in unserem Land anprangern, wenn Sie in Ihrer eigenen Partei die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen treten?“ Eine Antwort wurde noch nicht bekannt, wird aber eingefordert. Dana Guth, Landesvorsitzende der AfD Niedersachsen, nannte Gaulands Ausführungen „unangemessen“, eine Entschuldigung sei „das Mindeste, was jetzt folgen muss.“ Auch Rüdiger Lucassen, AfD-Chef in Nordrhein-Westfalen, wählte deutliche Worte: Gauland stelle „die Struktur unserer Partei in Frage“ und „legt die Axt an die Grundfeste der AfD.“ Die bayrische Parteivorsitzende Corinna Miazga sprach von einem „Affront“, der einem Ehrenvorsitzenden nicht anstehe. So deutliche Kritik an Gauland gab es aus den eigenen Reihen noch nie.

Meuthen warnt vor „Kadavergehorsam“

Jörg Meuthen ist dagegen in eine bequeme Position geraten, zumindest vorübergehend. In den vergangenen Wochen hatte er um seine eigene Verankerung in der AfD, basierend auf einer schmalen Mehrheit, bangen müssen. Jetzt kann er plötzlich wieder aus einer Position der Stärke heraus agieren. So kritisiert er, dass Kalbitz beabsichtigt, weiterhin Mitglied und sogar Vorsitzender der AfD-Landtagsfraktion in Brandenburg zu bleiben. Aus Sicht des Vorsitzenden ist das „nicht hinnehmbar“, eine „Vasallentreue“ und „blinder Kadavergehorsam“ würden der Partei schaden. „Damit würde sich die gesamte Fraktion direkt gegen die Partei im Ganzen wenden. Das wäre so nicht hinnehmbar. Das heißt, dass darauf reagiert werden wird“, kündigte er in einem RBB-Interview an.

Einfluss auf Entscheidungen einer Fraktion hat die Partei zwar nicht. In Flügel-Kreisen sieht man sich aber damit bedroht, „patriotische Landesverbände zu zerschlagen“. Meuthen provoziert in diesem Spektrum gezielt, zuletzt forderte er – nicht das erste Mal – Björn Höcke auf, einfach selbst um einen Platz im Bundesvorstand zu kandidieren, „am besten gegen mich“. Indirekt wirft er dem Flügel-Anführer Feigheit vor, denn er traue sich scheinbar „aus seinem Thüringer Sprengel nicht hinaus.“

Der brandenburgische Landesvorstand will heute beraten, wie es ohne die bisher unbestrittene Leitfigur Kalbitz weitergeht. Dem Vernehmen nach ist das Ex-Mitglied jedoch als Gast zu der Sitzung eingeladen worden. Für die kommende Woche steht eine Sondersitzung der Fraktion im Potsdamer Landtag an, auch daran soll Kalbitz teilnehmen dürfen. Nach Spiegel-Informationen wird erwogen, zudem Tino Chrupalla heranzuziehen – und möglicherweise sogar Alexander Gauland. An ihn hatte sich Chrupalla, dessen Verhältnis zu Meuthen in den vergangenen Monaten stark abgekühlt ist, oft gehalten.

Konflikt könnte Bundestagswahl überschatten

Doch die aktuelle Situation wirbelt die bekannten Loyalitäten gründlich durcheinander. Möglicherweise will sich Chrupalla jetzt noch weiter emanzipieren: Gauland „war da, als er gebraucht wurde“, schrieb der Sachse gestern auf Twitter – wertschätzend zwar, doch in der Vergangenheitsform. Die „mahnenden Worte“ des Ehrenvorsitzenden sollte man „als wichtiges Korrektiv anerkennen“, heißt es weiter. Doch Korrektive bestimmen nicht über den Kurs. Manche glauben, dass sich Chrupalla, der bislang kaum eigene Impulse setzen konnte, künftig als eine Alternative zu Meuthen und Gauland anbieten will, gewissermaßen als ein Zentrist zwischen radikalen und radikalsten Kräften. Ihm käme das zugute, er plant eine Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl im kommenden Jahr.

Bis dahin, das versichern alle Seiten, soll die Fehde unbedingt befriedet sein, die seit längerer Zeit gedämpften Umfragewerte hebt sie nämlich nicht. Doch es ist unklar, wie lange der künftige Rechtsstreit andauern wird, und auf die Wahlvorbereitungen wird sich der Konflikt mit Sicherheit auswirken. Nach dem Ende der Sommerpause beginnen die Aufstellungsparteitage, aussichtsreiche Plätze werden umkämpft und neue Arenen sein, in denen sich die parteiinternen Lager gegeneinander behaupten wollen.

Es ist gut möglich, dass sich Kalbitz dann bemerkbar macht, denn ein Verfemter ist es zumindest für die Ost-Verbände nicht. Er wird in absehbarer Zeit auch wieder bei AfD-Veranstaltungen zu sehen sein, ihm liegen schon mehrere Einladungen vor. Auch aus Sachsen.