Ausgerechnet am Jahrestag der „Reichspogromnacht“ sprach Andreas Kalbitz bei Pegida. Mit abwegigen Vergleichen verharmloste der Ex-AfD-Politiker den Nationalsozialismus, Lutz Bachmann ging auf Medien los und brachte die Jüdische Gemeinde in Verbindung mit antisemitischer Propaganda. Für den Bund ist die Dresdner Protestserie inzwischen „überwiegend rechtsextremistisch“.
Beitrag vom 11.11.2020, 16:00 Uhr │ Im Bild (via Twitter): Gegenprotest am Montag.
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Eigenwillige „Verantwortung“
Der brandenburgische Landtagsabgeordnete Andreas Kalbitz ist am Montag erneut bei einer Versammlung der rassistischen Pegida-Bewegung in Dresden aufgetreten. In seiner fast halbstündigen Rede kritisierte er eine angeblich „staatlich institutionalisierte Inländerfeindlichkeit“ und rief zur Entmachtung der Regierung auf. Namhafte Politiker*innen „müssen unbedingt, wenn es in diesem Land nicht völlig gegen die Wand fahren soll, von ihrem Regierungsauftrag friedlich und demokratisch, ich nenne es mal: entbunden werden.“ Dafür sei gemeinsamer Widerstand nötig, „Hand in Hand, auch mit der einzig noch wirklich parlamentarischen Opposition, der AfD“. Mit jener Partei also, die Kalbitz die Mitgliedschaft entzog, weil er über seine eigene Vergangenheit nachweislich gelogen hat. Dagegen klagt er, ohne Fortschritte vermelden zu können. Er sprach stattdessen eine Warnung an die früheren Parteifreund*innen aus: Sie dürften sich „nicht verlieren in den Parlamentstunneln“, sich nicht dem „Altparteienzirkus“ anschließen.
„Wer nicht danach handelt, hat das Recht verwirkt, wirklich oppositioneller Politiker für unser Land zu sein“, fuhr er fort und machte sich damit selbst zum Richtmaß. Die „Geraden“ hingegen dürften sich einreihen in die „letzte Brandmauer gegen den Komplettzerfall unseres Landes, unserer Kultur, unserer Identität und unserer Heimat.“ Diese Worte fielen ausgerechnet am 9. November, dem Jahrestag der „Reichspogromnacht“ von 1938, nur wenige Gehminuten von der Dresdner Synagoge entfernt. „Eigentlich“ wollte er nichts zu diesem Datum sagen, hatte Kalbitz seine Rede begonnen, um es dann ausführlich zu tun. „Ambivalent“ sei dieser Tag, denn eine Schuld trage man nicht, doch zur „historischen Verantwortung“ stehe man, beziehungsweise zu dem, was Kalbitz darunter versteht. Dazu gehöre „Widerstand gegen die Verfolgung von Menschen“, wenn heute etwa „politisch Oppositionelle leichtfertig als Nazis“ bezeichnet werden, sagte der amtsbekannte Neonazi und setzte hinzu, dass man so die Opfer des Holocaust verharmlose. Verantwortung bedeute aus seiner Sicht auch, mehr Einsatz zu zeigen „gegen den unkontrollierten Zustrom von islamistischen Gefährdern“, die „zunehmend verantwortlich sind für antisemitische Straftaten“.
Die Tatsachen liegen anders. Mehr als 150 judenfeindliche Taten registrierte die Polizei im vergangenen Jahr in Sachsen, ein neuer Höchstwert. Über 90 Prozent hatten einen rechten Hintergrund, drei Fälle waren religiös motiviert. Die meisten Delikte wurden übrigens in Dresden begangen. Kalbitz selbst hatte lange einer der radikalsten antisemitischen Organisationen in Deutschland angehangen, der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ), die in der Tradition der Hitlerjugend stand. Das Verbot der Gruppe im Jahr 2009 wurde unter anderem damit begründet, dass sie Jüdinnen und Juden „negative körperliche und charakterliche Eigenschaften unterstellt, um damit ihre Ausgrenzung aus der ‚Volksgemeinschaft‘ zu rechtfertigen und Abwertung, Benachteiligung, Verfolgung oder gar Vernichtung ideologisch zu rechtfertigen.“ Holocaustleugnung und Judenhass waren auch der Inhalt von Schulungen, bei denen selbst Kindern der Nazi-Propagandastreifen „Der ewige Jude“ vorgespielt wurde. Noch 2007 hatte Kalbitz ein „Lager“ der HDJ besucht. Um sich zu „informieren“, wie er später behauptete.
Schimpftiraden gegen die Presse
Davon distanziert hat er sich nie. Auch künftig ist das nicht zu erwarten, das lassen Wortspiele erahnen, die er in Dresden einflocht. „Es wird ja wieder mal kräftig ermächtigt in Deutschland“, sagte Kalbitz beispielsweise, als er auf die Corona-Pandemie zu sprechen kam. Er meinte damit das Infektionsschutzgesetz und verglich es so mit dem „Ermächtigungsgesetz“. Mit ihm gaben die Nationalsozialisten im März 1933 ihrer Diktatur eine formelle Grundlage, genau zu der Zeit, als die ersten Konzentrationslager eröffneten. Zwischen 400 und 800 Menschen, die Schätzungen gehen wie üblich auseinander, applaudierten dem Redner trotzdem – oder gerade deshalb. Sie stimmten „Kalbitz, Kalbitz“-Sprechchöre an, als er von der Bühne stieg.
Schon einmal, vor genau fünf Jahren, hatte Pegida an einem 9. November demonstriert, und wie damals gab es auch diesmal im Vorfeld breite Kritik. Dresdens Jüdische Gemeinde erklärte, es könne nicht hingenommen werden, „dass erneut Hass und Hetze“ verbreitet werden. Landesrabbiner Zsolt Balla sagte, es seien „genau diese Momente, in denen schlimme Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte wach werden“. Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden rügte mit „großer Fassungslosigkeit“, dass es die Versammlungsbehörde der Landeshauptstadt Pegida ermöglicht, sich auf einem zentralen Platz zu treffen. Ein „verheerendes“ Signal nannte das der sächsische Antisemitismusbeauftragte Thomas Feist, es fehle den Zuständigen jede Sensibilität, wenn einem Redner die Bühne geboten wird, „der nachweislich Verbindungen in die Neonazi-Szene hat“. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, nannte den Kalbitz-Auftritt „unerträglich“ – zumal es am gleichen Tag eine zentrale Gedenkveranstaltung für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus pandemiebedingt nicht geben durfte.
Die deutliche Kritik an Pegida nahm Lutz Bachmann bereits in seiner Eröffnungsrede zum Anlass für Bemerkungen, die selbst für seine Verhältnisse außergewöhnlich derb sind. Journalist*innen bezeichnete er als „presstituierte Maulhuren“, „gewissenlose Lohnschreiber“, „kleingeistige Maden“, „widerwärtiges Pack“ und „Erfüllungsgehilfen einer Diktatur“. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte er gar das „Sprachrohr der linken Szene“ und bezog sich mit alledem offenbar auf einen Onlineartikel vom gleichen Tag, in dem ein Statement der Jüdischen Gemeinde wiedergegeben wird. Was Bachmann entging: Es handelt sich nicht um einen redaktionellen Beitrag, sondern um eine Agenturmeldung. Doch das langte dem Pegida-Gründer, um der FAZ nachzusagen, sie publiziere, indem sie die Jüdische Gemeinde zitiert, „Artikel im Stile eines Streicher“. Gemeint ist Julius Streicher, Gründer und Herausgeber des NS-Propagandablatts „Der Stürmer“.
Mit Hakenkreuz und Hitlergruß
Wiederholt machte Bachmann auf ein RTL-Fernsehteam aufmerksam, unterbrach dafür sogar Kalbitz‘ Rede. Er deutete in die Richtung der Reporter*innen, die daraufhin bedrängt wurden. Vorwürfe des Antisemitismus in den eigenen Reihen wies Bachmann derweil zurück. Seine Belege sind gelegentlich gezeigte Israelfahnen und dass man Jerusalem als israelische Hauptstadt „anerkennen“ würde, als ob es darauf ankäme. Ähnlich wie nach ihm Kalbitz bezeichnete er Corona-Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie („Covid-Schnupfen“) als „Ermächtigungsgesetze“. Die Verbrechen der Nationalsozialisten nannte er Taten von „Sozialisten“, um so einen Bogen in die Gegenwart zu schlagen: In der sächsischen Landesregierung säßen heute „Bolschewisten“ und „grüne Ökoterroristen“. Pegida hingegen, da war er sich sicher, stehe „fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“.
Das beweise der aktuelle Verfassungsschutzbericht. Darin kommt Pegida tatsächlich nicht vor, anders als fast sämtliche Ableger in anderen Bundesländern hat das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz das Dresdner Original nicht unter Beobachtung genommen. Eine vorübergehende Einstufung als „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ wurde durch das Innenministerium wieder kassiert. Als vor einer Woche der neue Jahresbericht vorgestellt wurde, beantwortete Amtschef Dirk-Martin Christian bereitwillig Fragen von Journalist*innen. Nur um ein Statement zu Pegida drückte er sich, verwies darauf, dass sich seine Behörde von Rechts wegen beispielsweise nicht über einen etwaigen Verdachtsfall äußern dürfen – der Pegida in absehbarer Zeit wieder werden könnte. Bachmann selbst gilt hingegen seit einer Weile als erwiesener „Rechtsextremist“.
Inzwischen ist zudem, öffentlich kaum bemerkt, das Bundesinnenministerium vorgeprescht. Wie aktuelle Bundestagsanfragen der Linksfraktion zeigen, wurde im Oktober vergangenen Jahres erstmal eine Pegida-Kundgebung als „überwiegend rechtsextremistisch beeinflusst bzw. gesteuert“ bewertet – und seit Beginn des Jahres 2020 jede weitere Versammlung. Reden wie die von Kalbitz und Bachmann zeigen, warum. Auch das Randgeschehen spricht braune Bände. So stellte die Polizei am Montag ein Großplakat sicher. Es zeigte ein Hakenkreuz mit dicken Balken, durchgestrichen mit dünnem Stift. Aus der Ferne war nur das verbotene NS-Symbol zu erkennen. Gegen einen Teilnehmer wurde zudem eine Strafanzeige aufgenommen. Er soll den Hitlergruß gezeigt haben.