Plenarsaal │ Monatelang hat die AfD die Corona-Pandemie verharmlost und dazu beigetragen, die Eindämmung zu unterlaufen. Plötzlich räumt der sächsische Fraktionsvorsitzende Jörg Urban eine Übersterblichkeit ein. Die Schuld gibt er zwar der Landesregierung – doch die bedrückenden Zahlen konnte er kaum mehr ignorieren.
Beitrag vom 08.01.2021, 19:00 Uhr │ Bild: AfD-Fraktionschef Jörg Urban.
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Meinungswandel seit Dezember
Bei der ersten Landtagssitzung in diesem Jahr hat die sächsische AfD überraschend eine überdurchschnittliche Zahl von Todesfällen durch die Corona-Pandemie eingeräumt. Anhand der hohen Infektionszahlen im Freistaat hatten Sozialministerin Petra Köpping (SPD) und Kultusminister Christian Piwarz (CDU) zu Beginn der Tagung am Donnerstagnachmittag die Fortsetzung des aktuellen Lockdowns begründet. Jörg Urban, Vorsitzender der AfD-Fraktion, sprach in seiner Erwiderung von einer derzeit zu beobachtenden „Übersterblichkeit in Sachsen“. Die Todesopfer gingen allerdings „auf Ihr Konto“, sagte er in Richtung der Regierungsbank: Durch einen unzureichenden Schutz von Risikogruppen würden „schwere und tödliche Verlaufsformen“ von Covid-19 „provoziert“.
Erstaunlich: Vor fast genau einem Monat war Urban noch gegenteiliger Ansicht gewesen. Während einer Kundgebung in der Landeshauptstadt, bei der er als Landesvorsitzender seiner Partei sprach, behauptete er, es würden im Zuge der Pandemie „genauso wenig Menschen wie in den Vorjahren“ sterben. Jan-Oliver Zwerg, Generalsekretär der Landes-AfD, bekräftigte das bei der gleichen Veranstaltung: „Wir haben einfach keine Übersterblichkeit“. Zu diesem Zeitpunkt war die zweite Welle der Pandemie bereits in vollem Gang.
Ähnlich hatten sich zuvor schon andere AfD-Abgeordnete festgelegt und dabei sehr generelle Aussagen getroffen. Im September kritisierte Rolf Weigand die Maskenpflicht in Schulen als unnütz, da die Sterblichkeit in Sachsen „im Jahr 2020 gegenüber den Vorjahren sogar gesunken“ sei. Thomas Prantl sagte im Juni im Landtagsplenum, die „wirkliche Sterblichkeitsrate“ durch Corona ähnele der einer saisonalen Grippe, daher seien jegliche Grundrechtseingriffe „nicht verhältnismäßig“. Im April hatte Mario Kumpf für Empörung mit einer Plenarrede gesorgt, in der er ein „flächendeckendes Massensterben“ beklagte – und damit Unternehmen meinte, Menschen jedoch mit keinem Wort erwähnte. Bilder aus Bergamo erschütterten damals die Öffentlichkeit.
88 Prozent mehr Tote in Sachsen
Mitte März und damit zu Beginn der Pandemie hatte die sächsische AfD zunächst selbst weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens gefordert und den Regierungsfraktionen „Zögerlichkeit“ vorgeworfen. Im kurz danach begonnenen Frühjahrs-Lockdown wechselte man abrupt die Seiten, agitierte seitdem gegen eine Eindämmung und suchte sogar die Zusammenarbeit mit den radikalen „Querdenkern“. Jörg Urban hatte persönlich für einen Schulterschluss geworben und war dafür auf Konfrontation zum AfD-Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen gegangen, der zur Vorsicht riet.
Inzwischen stagniert die „Querdenken“-Bewegung jedoch. Als Einschnitt hinzu kam kürzlich der Tod von Harald Hänisch, eines AfD-Stadtrats aus Böhlen (Landkreis Leipzig). Er hatte an mehreren Veranstaltungen von Pandemie-Leugner*innen teilgenommen, verzichtete dabei demonstrativ auf eine Maske und verstarb schließlich an einer Corona-Erkrankung. Die Partei schweigt bis heute zu diesem Fall, sie kondolierte nicht einmal öffentlich.
Möglicherweise schaltet man nun einen Gang zurück. „99 Prozent der Kritiker der desaströsen Corona-Politik wissen um die Existenz und die Gefahr des Corona-Virus“, behauptete Urban gestern im Landtag. Die Daten sind immerhin eindeutig. Nach aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamtes lagen die Sterbefallzahlen Mitte Dezember rund 23 Prozent über dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019, in Sachsen waren es sogar mehr als 88 Prozent. Allein am Donnerstag sind im Freistaat 180 Menschen an oder mit einer Corona-Infektion gestorben, deutschlandweit wurden 1.188 Todesfälle gemeldet – ein neuer Höchstwert.