Die rechten Landtagsabgeordneten wollen vor dem Verfassungsgericht in Leipzig erreichen, dass eine Sonderregelung des sächsischen Wahlrechts gestrichen wird. Mit der Argumentation widerspricht die AfD ihrer bisherigen Standard-Forderung, das Parlament zu verkleinern. Gegenüber dem Gericht wird zudem der falsche Eindruck erweckt, dass es bald Neuwahlen gibt.
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Alle 38 Abgeordneten der sächsischen AfD-Fraktion haben beim Verfassungsgerichtshof des Freistaates eine Klage gegen das Wahlgesetz eingereicht. Auf Grundlage eines sogenannten Normenkontrollantrags will die Fraktion feststellen lassen, dass eine spezielle Regelung zu Ausgleichsmandaten verfassungswidrig ist. Die AfD stützt sich dabei auf ein 74-seitiges Rechtsgutachten, das bereits vor zwei Wochen beim Gericht eingegangenen ist (Aktenzeichen Vf. 35-11-20) und durch idas eingesehen werden konnte.
AfD will mehr Ausgleichsmandate zulassen
Demnach soll das sächsische Wahlrecht teilweise nicht mit der Landesverfassung vereinbar sein. Konkret angegriffen wird ein Absatz in Paragraf 6 des Sächsischen Wahlgesetzes, der für die Sitzverteilung bei Landtagswahlen bedeutsam ist. Im Regelfall werden dabei 120 Mandate vergeben. Die prozentuale Zusammensetzung ergibt sich aus den Zweitstimmen, die auf die Parteien mit ihren Landeslisten entfallen. Die Hälfte aller Sitze wird zunächst auf die siegreichen Direktkandidat*innen der 60 Wahlkreise verteilt, die mit der Erststimme gewählt werden. Folge: Ist eine Partei in den Wahlkreisen besonders stark, kann sie unter Umständen mehr Plätze einnehmen, als ihr nach einem schwächeren Zweitstimmen-Ergebnis zustehen würden. Das sind sogenannte Überhangmandate.
Wenn sie entstehen, erhalten die anderen Parteien zusätzliche Ausgleichsmandate, damit die verhältnismäßige Verteilung der Sitze gewahrt bleibt – ein sogenannter Verhältnisausgleich. Dadurch wird der Landtag etwas größer. Beispielsweise gab es infolge der Landtagswahl 2014 insgesamt 126 Abgeordnete, sechs mehr als vorgesehen. Damals hatte die CDU drei Überhangmandate erhalten, hinzu kamen ebenso viele Ausgleichsmandate. Sie gingen nach einem bestimmten Zählverfahren an die LINKE, die SPD und die AfD. Von der Regelung profitierten die Grünen als kleinste Fraktion dagegen nicht. Denn das Wahlgesetz deckelt in Sachsen die Zahl der Ausgleichsmandate: Es kann nur so viele davon geben, wie es Überhangmandate gibt.
Durch diese Deckelung, so rechnet es die AfD vor, ist es nicht möglich, die angestrebte proportionale Verteilung wiederherzustellen. Davon profitierte bislang die CDU, meist in einem kleinen Maß, doch rechnerisch sind auch große Verzerrungen denkbar. Die AfD erkennt darin schwerwiegende Verstöße gegen das Recht der Wähler*innen und der Wahlbewerber*innen auf die Gleichheit der Wahl sowie das Recht der Parteien auf Gleichbehandlung. Darüber hinaus wird der CDU, die seit der Wende in Sachsen regiert, eine von vornherein geplante „Selbstbegünstigung“ unterstellt – und vor einem möglichen Missbrauch zulasten der AfD gewarnt. Wenn sich künftig Parteien absprechen und die Wahlkreise vorher unter sich „aufteilen“, damit die AfD sie nicht gewinnt, würde sie durch den begrenzten Verhältnisausgleich künstlich klein gehalten, heißt es sinngemäß.
Gesetzesnovelle ist ohnehin geplant
Die AfD betritt damit kein Neuland, sondern macht mit ihrer Argumentation nur erneut auf ein lange bekanntes Problem aufmerksam. Das sächsische Wahlgesetz gilt seit 1993 und wurde zuletzt 2019 überarbeitet, die Regelung zu den Ausgleichs- und Überhangmandaten ist bisher nicht angepasst worden. Sie ist tatsächlich eine sächsische Besonderheit, in anderen Bundesländern wird der Verhältnisausgleich nicht so stark eingeschränkt. Daher haben in den vergangenen Wahlperioden verschiedene Fraktionen Vorschläge für teils weitgehende Reformen gemacht. Eine umfassende Novellierung ist auch ein Ziel der aktuellen Landesregierung, das sogar in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde.
Die AfD möchte dem offenbar vorgreifen und mithilfe des Gerichts Tatsachen schaffen. Das ist das Recht der Fraktion. Formale Voraussetzung für die Normenkontrollklage ist, dass sie von einem Viertel aller Landtagsabgeordneten getragen wird, so viele hat die AfD selbst beisammen. Sie geht damit allerdings einen Weg, der jenseits des üblichen parlamentarischen Verfahrens liegt. Einen eigenen Gesetzentwurf zu dem Thema hat die AfD bislang nicht vorgelegt und auch keine andere Initiative in diese Richtung entwickelt. Das ist folgerichtig, denn mit der Argumentation in der Klageschrift weicht die AfD grundsätzlich von ihrer bisherigen Forderung ab, Parlamente zu verkleinern.
Diese bislang typische Forderung hatte sich die sächsische AfD sogar in ihr offizielles Programm zur Landtagswahl 2014 geschrieben und verlangt, die Zahl der Parlamentsmitglieder deutlich zu reduzieren, denn es gebe schlicht „zu viele Abgeordnete“. Das wichtigste Argument für diesen populistischen Klassiker: Eine Verkleinerung würde helfen, Steuermittel einzusparen. In einer Reihe von Pressemitteilungen und Werbebroschüren hat die AfD die Forderung, die Legislative zu schwächen, immer wieder aufgegriffen. Auch 2019, im Jahr der letzten Landtagswahl, war das noch der Fall. Doch der „volle proportionalen Mehrsitzausgleich“, den die AfD jetzt verlangt, würde das Gegenteil bewirken: eine Vergrößerung des Landtages, da künftig viel mehr Mandate vergeben werden könnten.
Neuwahlen „in wenigen Monaten“?
In der Klageschrift heißt es sogar, ein „vergleichsweise geringfügiges fiskalisches Ziel“, also die Kostenersparnis durch ein möglichst kleines Parlament, übertreffe nicht das Ziel, die Stimmen aller Wähler*innen angemessen zur Geltung zu bringen. Das mag stimmen. Es zeigt aber auch, dass der AfD die Schonung von Steuermitteln der Bürger*innen nicht mehr ganz so wichtig ist, sobald absehbar wird, dass sie selbst immer mehr Mandate abstauben kann. Ginge es ihr nicht um den eigenen Vorteil, hätte sich die AfD auch anderer Vorschläge bedienen können, um etwa die Entstehung von Ausgleichs- und Überhangmandaten unwahrscheinlicher zu machen. Das könnte etwa durch eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise bewirkt werden.
Dass die AfD einen ganz anderen Weg geht und sich dabei selbst widerspricht könnte ein Grund sein, warum sie die Öffentlichkeit bislang nicht über die Klage informiert hat. Das Verfassungsgericht wird sich mit dem sperrigen Thema voraussichtlich auch erst in den Sommermonaten in einem sogenannten Hauptsacheverfahren befassen. Die AfD verlangt aber darüber hinaus, dass es eine zeitigere Vorentscheidung gibt: Sie hat zugleich beantragt, eine einstweile Anordnung zu treffen und die entsprechende Regelung des Wahlgesetzes möglichst bald außer Kraft zu setzen. Als Grund für die damit behauptete Dringlichkeit wird angegeben, es sei „wahrscheinlich, dass in wenigen Monaten bereits eine sog. Wiederholungswahl stattfinden wird“. Das ist allerdings eine gewagte Prognose.
Die AfD spielt damit auf Probleme an, die aus ihrer umstrittenen Listenaufstellung zur Landtagswahl im vergangenen Jahr entstanden sind. Insgesamt hatte die Landespartei 61 Kandidierende nominiert, jedoch bei zwei getrennten Parteitagen, bei denen zunächst auch zwei unterschiedliche Landeslisten erzeugt wurden. Vor allem deshalb hat der maßgebliche Landeswahlausschuss nur die ersten 18 Kandidierenden zugelassen. Das sächsische Verfassungsgericht gab dann jedoch unerwartet einem Eilantrag der Partei nach und ließ immerhin 30 Kandidierende zu. Der zweite Teil der Liste blieb aber gestrichen. Grund: Bei der Aufstellung der Kandidierenden wurde mittendrin das Wahlverfahren geändert, ohne dass das von Anbeginn vereinbart war, wie es sonst üblich und auch nach der Satzung der AfD erforderlich ist.
Hintergrund ist der Streit um die Landesliste
Das hatte Auswirkungen auf den aktuellen Landtag. Denn ihrem starken Wahlergebnis zufolge hätte die AfD insgesamt 39 Mandate erlangt, die teils in den Wahlkreisen gewonnen, teils über die Landesliste besetzt wurden. Eines der Mandate würde der Dresdner Kandidatin Arlett Ospel zustehen – doch sie steht ganz oben auf dem gestrichenen Listenteil und durfte daher nicht in den Landtag einziehen. Er besteht deswegen in der aktuellen Wahlperiode nur aus 119 Abgeordneten, nicht aus den üblichen 120. Durch die gekürzte Liste hat die AfD auch keine Nachrücker*innen. Fall eine ihrer Abgeordneten vorzeitig ausscheiden sollte, wird die Fraktion daher schrumpfen und das Parlament noch etwas kleiner werden.
Dagegen wehrt sich die AfD. Sie hat einen Untersuchungsausschuss einsetzen lassen, der klären soll, wie es zu der Listenkürzung kam. Die Fraktion unterstellt eine großangelegte Intrige, in der aktuellen Klage ist die Rede von nicht näher beschriebenen und erst recht nicht belegten „Absonderlichkeiten“. Zudem haben der AfD-Landesverband und einige Kandidierende, die bei der Landtagswahl erfolglos blieben, Beschwerden beim Wahlprüfungsausschuss des Landtages eingelegt. Er befasst sich mit zahlreichen vermeintlichen und tatsächlichen Fehlern, die im Zusammenhang mit der Landtagswahl stehen, und erörtert jeden einzelnen Fall ausführlich. Unter Umständen könnte der Wahlprüfungsausschuss tatsächlich eine Neuwahl empfehlen.
Das wäre ein Novum. In ihrer aktuellen Klageschrift behauptet die AfD trotzdem, die Streichung eines Teils ihrer Landesliste werde „im regulären Wahlprüfungsverfahren nicht zu halten sein“. Doch das ist nicht mehr als eine Meinung, mit der die AfD alleine dasteht. Das sächsische Verfassungsgericht hatte im Wechsel des Wahlverfahrens während der Listenaufstellung einen „beachtlichen Wahlvorbereitungsfehler“ vonseiten der Partei erkannt – und genau deswegen an einer teilweisen Streichung der Liste festgehalten.
Dem Gericht werden Fakten vorenthalten
Trotzdem hält die siegesgewisse AfD baldige Neuwahlen für eine zwingende Entwicklung, so kann man die Ausführungen in der Klageschrift verstehen. Genau daher soll das Verfassungsgericht schnellstmöglich in das Wahlgesetz eingreifen, im Sinne der AfD natürlich. Allerdings geht sie dabei sparsam mit den Fakten um, zwei Umstände erwähnt sie in ihrer Klageschrift nicht: Zum einen hat die Partei bereits eingeräumt, dass zwei Kandidierende völlig zurecht gestrichen worden sind. Beide hatten nicht alle erforderlichen Unterlagen vorgelegt, die vorhanden sein müssen, um auf der Landesliste zu stehen. Fehler seitens der AfD gab es also definitiv, daher geht es im Wahlprüfungsausschuss schon gar nicht mehr um die „komplette“ Landesliste der AfD.
Zum anderen hat die Partei, wie idas aus Parlamentskreisen erfuhr, in einer ihrer Beschwerdeschriften an den Wahlprüfungsausschuss ausdrücklich betont, gar nicht auf einer Neuwahl zu bestehen. Es genügt ihr demnach, wenn einige der gestrichenen Listenplätze nachträglich anerkannt werden, vor allem soll Arlett Ospel ihr Mandat zugesprochen werden. Auch das ist kein allzu wahrscheinliches Szenario. Aber demnach existiert die „besondere Dinglichkeit“, die nunmehr gegenüber dem Gericht behauptet wird, in Wirklichkeit nicht. So oder so ist eine Entscheidung des Wahlprüfungsausschusses in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, denn die Materie ist komplex und wird sich über etliche Sitzungen erstrecken.
Durch die Corona-Pandemie ist derzeit nicht einmal absehbar, wann sich das siebenköpfige Gremium wieder treffen wird. Für die AfD gehören ihm Jörg Urban und Roland Ulbrich an. Als Mitarbeiter hat die Fraktion Michael Elicker entsandt, er berät die AfD auch im parallelen Untersuchungsausschuss. Bereits seit dem vergangenen Jahr sind die Dienste Elickers, der Staatsrecht an der Universität Saarland lehrt und nach eigenen Angaben kein Parteimitglied ist, in Sachsen gefragt. Er hatte den AfD-Landesverband im Vorfeld der Landtagswahl am sächsischen Verfassungsgerichtshof vertreten – und ist nun Autor der neuen Klage gegen das Wahlgesetz.