AfD-Abgeordneter Sebastian Wippel verliert Immunität

Die Immunität eines sächsischen Landtagsabgeordneten soll aufgehoben werden. Recherchen zeigen: Es geht um Sebastian Wippel. Der Parlamentarier hat vor vier Jahren einen Neonazi-Übergriff öffentlich bagatellisiert und dem Betroffenen die Schuld zugeschoben, ihn damit mutmaßlich beleidigt und verunglimpft. An seiner offenkundig falschen Darstellung hält der AfD-Mann bis heute fest. Von Beruf ist er ausgerechnet Polizeibeamter.


Beitrag vom 18.09.2020, 10:30 Uhr │ Im Bild: Der AfD-Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel.


Immunität fällt in der kommenden Woche

Seltene Post hat den Landtag vor kurzem erreicht. Eine Staatsanwaltschaft beantragt darin, die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben. Wer nachfragt, merkt gleich: Dieses Thema ist allen beteiligten Seiten unangenehm, fast peinlich. So führt Sachsens Justiz nicht einmal eine Statistik darüber, wie häufig das vorkommt, und beantwortet Anfragen zu einzelnen Fällen nicht. Nur wer die Medien aufmerksam verfolgt, kann zusammenzählen, dass es davon mindestens acht in der vergangenen Wahlperiode gegeben haben muss – und nun wieder, zum ersten Mal wieder seit der letzten Wahl. Doch auch im Parlament hält man sich bedeckt bei der Frage, um wen und worum es geht. Vielleicht, weil niemand davor gefeit ist, beschuldigt zu werden, und weil für alle die Unschuldsvermutung gilt.

Um wen es geht, weiß man allerdings bei der AfD ganz genau. Es hat einen ihrer Abgeordneten getroffen, Sebastian Wippel, den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und innenpolitischen Sprecher. Auch die Sächsische Zeitung berichtet heute, dass Wippel im Fokus ist. Die Staatsanwaltschaft Görlitz wirft ihm demnach Beleidigung sowie üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens vor. Der Landtagsausschuss für Immunitätsangelegenheiten hat den Fall bereits in vertraulicher Runde beraten und empfohlen, dem Ersuchen der Staatsanwaltschaft nachzukommen. Folge: Wenn es aus dem Parlament keinen Widerspruch gibt, wird Wippel bereits Anfang der kommenden Woche seine Immunität verlieren. Dann könnte er beispielsweise als Beschuldigter vernommen oder auch angeklagt werden.

Doch warum? Nach idas-Recherchen gibt es in der Tat ein offenes Verfahren gegen den AfD-Mann, das schon mehrere Jahre auf dem Buckel hat und in dem bislang nicht viel passiert ist. Zugrunde liegt ein Vorfall, mit dem Wippel zunächst gar nichts zu tun hatte und der im November 2016 groß durch die Medien gegangen war: eine Hooligan-Attacke auf einen Landespolitiker der Grünen. Betroffen war der Leipziger Anwalt Jürgen Kasek, eine Hassfigur der Rechten und damals Landeschef seiner Partei. Gemeinsam mit einer weiteren Politikerin, die heute selbst im Landtag sitzt, und einer Bundestagsabgeordneten hatte Kasek damals im sachsen-anhaltischen Naumburg auf einen Zug gewartet. Die kleine Gruppe stieg in eine Regionalbahn nach Leipzig. Sie war voll besetzt mit Fans des Fußballvereins Lokomotive Leipzig.

Beschimpft, beworfen, getreten

Kaum hatte die Gruppe den Zug bestiegen, brach ein schwerer Tumult aus. Einige Lok-Anhänger erkannten Kasek sofort, brüllten seinen Namen immer wieder durch den Zug. Sie bepöbelten ihn aufs Übelste, „grüne Sau“ war noch eines der dezenteren Schimpfworte. Etliche der sogenannten Fans standen von ihren Plätzen auf und bedrängten die Gruppe. Dann flog eine Plastikflasche durch den Zug und erwischte Kasek am Hinterkopf, die Bundestagsabgeordnete wurde mehrfach getreten. Einige Polizeibeamte, die mitfuhren, hatten alle Mühe, die Lage unter Kontrolle zu halten. Sie mussten die aggressiven Angreifer mit körperlicher Gewalt zurückdrängen – und die Betroffenen zu ihrem eigenen Schutz wieder aus dem Zug herausgeleiten.

Der Ablauf ist gut bekannt, weil es Videoaufzeichnungen gibt. Sie zeigen, dass es sich keineswegs um normale Fußballfans handelte, sondern um bekannte Neonazis und Kampfsportler, die als „Gewalttäter Sport“ und rechtsmotivierte Straftäter auch für die Polizei keine unbeschriebenen Blätter sind, sondern Kriminelle. Einer der ersten, der Kasek konfrontierte und wüst beschimpfte, war Mario Kuhbach. Ebenfalls vorn dabei war Dittmar Schumer. Er näherte sich Kasek und hielt dabei augenscheinlich eine leere Flasche in der Hand. Auf der nächsten Sequenz ist zu sehen, wie sie durch den Raum fliegt. Und noch eine Einstellung später steht Schumer ohne Flasche da, nur der Wurf an sich ist nicht dokumentiert. Eine Zeugenaussage legt nahe, dass es derselbe Mann gewesen sein könnte, der auf die Bundestagsabgeordnete eintrat.

Als die Polizei dazwischenging, standen Kasek und seinen Begleiterinnen bereits drei weitere bekannte Neonazis gegenüber, die ebenfalls gut zu erkennen sind: Benjamin Brinsa, Christopher Henze und Benjamin Schölzel. An dem Gewaltpotential konnte kein Zweifel bestehen, denn mehrere der Beteiligten – die später überwiegend als Zeugen geführt wurden – waren einige Monate zuvor gemeinsam an einem Überfall im Leipziger Stadtteil Connewitz beteiligt gewesen. Szenekundige Beamte identifizierten sie dann auch mühelos. Das Amtsgericht Naumburg verhandelte den Fall anderthalb Jahre später, angeklagt waren nur Schumer und Kuhbach. Das Urteil liegt idas vor, Schumer wurde demnach vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen, wohl auch, weil die Polizei die Flasche nicht fand, die er geworfen haben soll. Kuhbach erhielt wegen Beleidigung eine Geldstrafe.

Für die AfD nur ein „versuchter Angriff“

In den Vorfall, der in Sachsen-Anhalt geschah, mischte sich überraschend auch die sächsische AfD ein. Bereits zwei Tage danach, am 8. November 2016, veröffentlichten die Abgeordneten Sebastian Wippel und Carsten Hütter eine gemeinsame Pressemitteilung. Auf der Website der Fraktion ist sie nicht zu finden, Hütter hat den Text auf seinen Online-Profilen längst gelöscht. Nur bei Wippel ist das komplette Schreiben bis heute abrufbar. Darin wird Kasek unumwunden vorgeworfen, sich als Opfer „inszeniert“ zu haben. Es spreche „viel“ dafür, „dass er die Eskalation in Kauf nahm, um später damit mediale Aufmerksamkeit zu generieren“, heißt es. Er solle sich „selbst hinterfragen, ob er alles richtig gemacht hat, anstatt die Sache für seine persönliche Vermarktung zu nutzen“. Nach Auffassung der AfD war der ganze Vorfall lediglich ein „versuchter Angriff“.

Die Pressemitteilung erweckte zudem den Anschein, dass sich die AfD-Abgeordneten auf exklusive Informationen stützen konnten. „Nach unseren Informationen lief das Geschehen am Bahnhof in Naumburg jedoch etwas anders ab“, als es in den Zeitungen stand, behaupteten sie. Die Fans im Zug hätten sich demnach „fussballtypisch, jedoch nicht gewalttätig“ verhalten. Als Kasek zustieg, hätten sie ihn als „Anhänger des Lokalrivalen BSG Chemie“ identifiziert, also nicht etwa aus politischen Gründen angefeindet. Was auffällt: Einige der Formulierungen über „fußballtypisches“ Verhalten tauchten auch in internen Polizeiberichten auf, verfasst von Beamt*innen, die im Zug mitfuhren. Wippel wiederum ist selbst Polizist, war damals sogar noch neben seinem Mandat im Teilzeitdienst aktiv. In den Einsatzunterlagen wurde allerdings kein Zweifel an der Bedrohlichkeit der Situation gelassen. Auch nicht daran, dass Kasek erkannt und gezielt attackiert wurde, dass es bei einem „Versuch“ nicht blieb.

Das bestätigte sich später vor Gericht. Die Behauptungen, die unter anderem Wippel in die Welt setzte und von denen er bis heute nichts zurückgenommen hat, waren dagegen ganz überwiegend falsch. Kasek wehrte sich dagegen mit einer Strafanzeige. Unklar ist, warum man ihr jahrelang nicht nachgegangen ist.


Nachtrag vom 26.09.2020 │ Während die zuständige Staatsanwaltschaft Görlitz keine Angaben zu den Ermittlungen gegen Wippel macht, die zur inzwischen erfolgten Aufhebung seiner Immunität führten, hat sich der Abgeordnete nun gegenüber der Sächsischen Zeitung erklärt. „Es geht um eine Nachbetrachtung der äußerst gewaltsamen linken Ausschreitungen in Leipzig anlässlich einer Legida-Demonstration von Anfang 2018“, so Wippel. In einer Pressemitteilung hatte er sich in dem Zusammenhang über den Grünen-Politiker Jürgen Kasek ausgelassen. An unserer Darstellung zu dem weiteren Verfahren, das ebenfalls Wippel und Kasek betrifft, hält idas fest.