Der unbekannte Kandidat

Christoph Neumann sitzt für die AfD im Bundestag, demnächst will er in Leipzig Oberbürgermeister werden. In der Messestadt ist er aber kaum bekannt. Eine Spurensuche zu der Frage: Wofür steht und woher kommt der Politiker?

Die schnippische Antwort ist: Neumann kommt aus Leipzig, zumindest das ist gesichert. Hier wurde der 55-Jährige geboren, und hier lebt er heute wieder, im Stadtteil Lützschena-Stahmeln. Er ist katholisch und verheiratet, hat zwei Kinder, engagiert sich im örtlichen Heimatverein. Er hat, was überrascht, nicht die Ausstrahlung eines Marktschreiers, die man sich vorstellt, wenn man an die AfD bei einer ostdeutschen Wahl denkt.

Grenzschützer und Einwanderungshelfer

Neumann spricht langsam und leise, aggressiv kommt er nicht rüber. Die längste Zeit seines Lebens war er auch kein Politiker: Anfang der 1980er Jahre machte er eine Tischlerlehre, studierte danach Maschinenbau und schloss als Diplom-Ingenieur-Pädagoge ab. Von 1989 bis 1992, so führt er es selber aus, war er beim „Grenzschutz“ tätig, zunächst als Offizier in der DDR. Nach der Wiedervereinigung sei er als Polizeibeamter in den Bundesgrenzschutz (BGS) übernommen und unter anderem am Schloss Bellevue eingesetzt worden, am Amtssitz des Bundespräsidenten.

Ob er seine Lehre abschloss, wo er studierte, was hinter seiner Offizierslaufbahn steht – all das teilt Neumann nicht mit. Besonders fragwürdig ist seine Angabe, er habe schon 1989 beim „Grenzschutz“ gearbeitet. Denn eine Organisation mit diesem Namen gab es erst etwas später, in den Wendewirren des Jahres 1990. Davor oblagen in der DDR die Grenzschutzaufgaben der zivilen Zollverwaltung, den militärischen Grenztruppen sowie, weit weniger bekannt, den Passkontrolleinheiten (PKE) des Ministeriums für Staatssicherheit.

Diese übernahmen Aufgaben des Zolls und trugen zum Schein die Uniformen der Grenztruppen. Etliche PKE-Kräfte aus dem Osten wurden in den BGS des Westens übernommen, bis 1991 auffiel, dass es sich um ehemalige Stasi-Leute handelt. Neumanns Arbeit beim BGS, der heute Bundespolizei heißt, war 1992 schon wieder vorbei. Warum er so schnell aus dem Polizeidienst ausschied? Das sagt er, der im aktuellen Wahlkampf für mehr Transparenz wirbt, nicht.

Danach war er Verwaltungsbeamter in München, wurde in kürzester Zeit durch mindestens fünf verschiedene Ämter der bayrischen Landeshauptstadt gereicht. Es schloss sich ein Aufbaustudium zum „Public Relations-Berater“ an, dann folgten von 1996 bis 2011 langjährige Auslandsaufenthalte in Russland und der Ukraine. Dort will er als PR-Berater tätig gewesen sein. Seine Arbeit- und Auftraggeber benennt er nicht, womöglich handelt es sich um eine anthroposophische Stiftung.

Als er 2011 nach Leipzig zurückkehrte, wurde er „Unternehmer“. Auch dazu sind seine Angaben sparsam. Einmal gab er an, er sei ein „Unternehmer, der ausländische Fach- und Führungskräfte der Wirtschaft in Mitteldeutschland temporär eingliedert“. Tatsächlich ist er der Inhaber einer sogenannten Relocation-Agentur („Realdomus“). Sie tut, was die AfD bekämpft, und hilft Ausländer*innen bei der Einwanderung. Die Geschäfte seines „Unternehmens“, wie er es nennt, auch wenn es nur ein Einzelgewerbe ist, laufen parallel zu seinem Bundestagsmandat weiter. In den beiden vergangenen Jahren erzielte er dadurch ein erhebliches Zusatzeinkommen, jeweils im fünfstelligen Bereich.

Umtriebiger Parteiarbeiter

Der AfD trat Neumann Anfang 2014 bei, „damit die deutschen Kulturwerte kein Opfer der kapitalen Globalisierung werden“, wie er sagt. Seitdem gehört er zum Leipziger Kreisverband, ist heute in der Ortsgruppe Ost aktiv. Gleich zu Beginn seiner Parteilaufbahn versuchte er, ein Mandat zu ergattern. Als Kandidat zur Stadtratswahl im Frühjahr 2014 scheiterte er aber krachend, nur rund sechs Prozent kamen in seinem Wahlkreis zusammen. Nicht viel besser lief es drei Monate später als Direktkandidat zur Landtagswahl, diesmal waren es 6,5 Prozent. Neumann war einfach niemand, den man sich merken muss, so schien es zumindest von außen.

Von innen gesehen ist er einer, der als ausgesprochen fleißiger Parteiarbeiter gilt. Als Delegierter war er bei zahlreichen Kreis-, Landes- und Bundesparteitagen zu sehen. Sein wenig bekannter Aufstieg innerhalb der AfD gelang ihm in der Frühphase der Partei – in einer Zeit, in der noch nicht klar war, ob ihr ein langes Leben beschieden sein wird, in der sie noch kein Programm hatte, sich von Wahl zu Wahl hangeln musste. In dieser Situation fand Neumann seinen Platz.

Für die systematische Programmarbeit schuf die AfD damals interne Fachausschüsse. Wenige Monate nach seinem Beitritt wurde Neumann Leiter des gerade im sächsischen Landesverband neu gebildeten Ausschusses Nummer 1, zuständig für die „Internationale Verantwortung Deutschlands“. Mit der Außen-, Sicherheits-, Asyl- und Entwicklungspolitik befasst man sich dort.

Ein Fachausschuss zum gleichen Thema existiert auf Bundesebene, auch dort mischt Neumann mit. Offenbar so erfolgreich, dass er bald darauf sämtliche sächsischen Fachausschüsse koordinierte und 2015 Leiter der Landesprogrammkommission wurde. Im selben Jahr entsandte ihn der Landesverband als sächsischen Vertreter in die Bundesprogrammkommission. Das Ringen um ein Parteiprogramm, an dem Neumann mitstrickte, prägte die AfD über Jahre.

„Flügel“-nahe Positionen

Kaum durchblicken lässt er jedoch, wo er innerparteilich steht. Nur zu einer AfD-nahen Vereinigung hat er sich bekannt, er ist Mitglied des sogenannten Mittelstandsforums. Dessen sächsischer Verband entstand 2015, einer der Mitgründer war Hans-Holger Malcomeß. Der war in den 1990er Jahren in Dresden ein Anhänger der verbotenen neonazistischen „Wiking-Jugend“, heute leitet der Goldhändler die AfD-Bundesgeschäftsstelle.

Unter den sächsischen Landtagsabgeordneten, bei denen Selbständige und Unternehmer*innen stark überrepräsentiert sind, ist das Mittelstandsforum inzwischen die verbreitetste und einflussreichste parteinahe Organisation – neben dem völkisch-nationalistischen „Flügel“ um Björn Höcke. Zum „Flügel“ hat sich Neumann nie öffentlich eingelassen, aber auch nie distanziert. Erst gestern hat er für eine Wahlkampf-Veranstaltung seinen Bundestagskollegen Stephan Brandner nach Leipzig geholt. Er ist einer der Bundessprecher der Partei, ein ausgewiesener Scharfmacher, zudem ein enger Vertrauter Höckes.

Mit „Flügel“-Anhänger*innen umgibt sich Neumann auch sonst bedenkenlos. Sein aktueller Wahlkampfmanager Christian Kriegel, Fraktionsgeschäftsführer der Leipziger AfD-Stadtratsfraktion, war Referent bei einem Stammtisch der nationalistischen „Patriotischen Plattform“ sowie Erstunterzeichner der Erfurter Resolution, des Gründungsdokuments der Höcke-Truppe. In Sachsen ist der „Flügel“ inzwischen konkurrenzlos, der Landesvorsitzende Jörg Urban gehört ihm genauso an wie der Generalsekretär Jan Zwerg. Ihm zufolge zählen sogar 60 bis 70 Prozent aller sächsischen AfD-Mitglieder zum „Flügel“.

Neumann bezog immer wieder Standpunkte, die dort gut ankommen dürften. Als er kurz vor der Landtagswahl im vergangenen Jahr auf einem Podium vor Leipziger Schüler*innen sprach, brachte er laut einem Bericht des Sachsen-Fernsehen „obsolete und diskriminierende Rassenlehretheorien auf den Tisch“. Bereits 2016 warnte er in einer AfD-Publikation vor einer „Landnahme des Islam in unserer Heimat“ und verstieg sich in Gewaltphantasien: Werde die Regierung „machtlos gegenüber den respektlosen Fremden bleiben, erleben wir bald eine revolutionäre Phase.“

Ein Jahr später geißelte er die „Masseneinwanderung von Moslems“. Im Vorfeld der Bundestagswahl sagte er der Leipziger Volkszeitung, Muslime seien seiner Ansicht nach nicht bereit, die Sitten und Gebräuche ihres Gastlandes zu respektieren. Sie könnten zu einer großen Gefahr werden, wenn sie sich organisierten: „Diese Migranten sind im wehrfähigen Alter und kampferfahren. Wenn die in einer Nacht alle Bundeswehrkasernen überfallen, sind wir Gefangene im eigenen Land.“ Neumann träumt den Fiebertraum aller Fremdenfeinde.

Ein anderes Mal klang er eher wie ein waschechter Reichsbürger. Eine „echte Verfassung“ benötige Deutschland anstelle des Grundgesetzes, schrieb er. „Wir als souveräner Staat haben aber immer noch ein Grundgesetz, welches am 12.04.1949 von den alliierten Siegermächten genehmigt wurde. Es ist an der Zeit, dass sich das deutsche Volk endlich selbst eine Verfassung gibt.“

Tuchfühlung mit Jobbik

Dass Neumann nicht nur bisweilen wie ein Rechtsausleger in einer Rechtspartei klingt, sondern sich wirklich ins Zeug legt, zeigt eine andere Episode. Vor einer Weile tourte er durch AfD-Verbände und berichtete dort über eine „Balkan-Reise“, die sächsische Mitglieder, Funktionäre und Abgeordnete der Partei im Frühjahr 2016 unternommen haben. Ziel war es, so heißt es in einem Bericht des AfD-Kreisverbandes Leipzig, „sich vor Ort über die erfolgten Grenzsicherungen“ auf der sogenannten Balkanroute zu informieren. Erkenntnis dabei: Zu „ordentlichen Grenzsicherungsmaßnahmen“ seien besonders „unsere ungarischen Freunde“ imstande. Orbáns illiberale und migrationsfeindliche Politik, das ist bekannt, hat deutsche Rechte nachhaltig beeindruckt.

Die Reise dauerte fünf Tage. Sie führte durch Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und schließlich nach Ungarn. Dort entstand ein Foto vor einer Grenzanlage mit hohem Zaun und Stacheldraht. Zwei Landtagsmitglieder spannen davor eine AfD-Fahne auf, zu erkennen ist unter anderem Mario Beger, der auch aktuell im Landtag sitzt. Gleich daneben ist Christoph Neumann zu erkennen, der ein kleines Fähnchen mit dem Wappen der Stadt Leipzig vorzeigt.

Was das Foto nicht zeigt: Die Gastgeber der Sachsen, die sogenannten ungarischen Freunde – das war nicht etwa Orbáns Fidesz-Partei. Sondern es war die noch rechts davon stehende, antisemitische Konkurrenz namens Jobbik. Sie führte die AfD-Leute auch durchs ungarische Parlament. Mit dem damaligen Parteichef Gábor Vona sprach man sogar über eine mögliche Zusammenarbeit von Jobbik und AfD.

Das brachte die Politurlauber nach ihrer Rückkehr in die Bredouille, weil die AfD offiziell einen Kontakt mit Jobbik ablehnt. Der Landtagsabgeordnete Beger ist deshalb auch durch Frauke Petry, damals Fraktionschefin, für die offenbar unabgesprochene Tour zurechtgewiesen worden und veröffentlichte eine Erklärung, in der er reumütig einräumte, einen „schweren Fehler“ begangen zu haben.

Pressenachfragen, welche weiteren Kontakte die AfD-Delegation auf ihrer Reise hatte, wurden damals nicht beantwortet. Man habe „mehrere lokale Parlamentarier, Bürgermeister und Polizisten“ getroffen, hieß es. Um wen genau es sich handelte und welchen Parteien diese Personen angehören entziehe sich jedoch „unserer detaillierten Kenntnis“.

Hinterbänkler im Bundestag

Für Neumann, der es vermutlich detailliert weiß, war die Reise folgenlos. Sie dürfte sogar dazu beigetragen haben, seinen Ruf als Außen- und Sicherheitspolitiker zu festigen, das Stadtmagazin Kreuzer nannte ihn gar einen „volkstreuen Grenzfanatiker“. Als er zur Bundestagswahl im September 2017 antrat, war es sein erklärtes Ziel, in den Verteidigungsausschuss zu kommen.

In den Bundestag hat er es geschafft. Gut 20 Prozent der Erststimmen erhielt er diesmal als Direktkandidat. Das reichte zwar auch nicht, aber er war durch einen günstigen Listenplatz abgesichert. Seitdem ist Neumann Abgeordneter, und glaubt man seiner Website, ist er sogar wie geplant Mitglied im Verteidigungsausschuss geworden. In Wirklichkeit ist er dort aber nur Stellvertreter und an den Sitzungen in der Regel gar nicht beteiligt. Stattdessen ist er Mitglied im Tourismusausschuss, wo die Materie weniger kontrovers ist.

Ansonsten ist Neumann im Bundestag so unauffällig wie nur möglich, ein Hinterbänkler. Man sieht das auch daran, dass er im Parlamentsplenum bis heute nur eine einzige Rede hielt. In seinem Bundestagsbüro beschäftigt er unter anderem Felix Tessenow. Ein Mann mit diesem Namen ist in Leipzig bekannt als Burschenschafter und als Geschäftspartner von Christian Pohle. Der wiederum ist ein Kampfsportler, der in Leipzig („Fighting Catwalk“) und Eilenburg („Crash Style Store“) Geschäfte für Sportbekleidung eröffnet und dort Klamotten rechter Szenemarken verkauft hat.

Neumann betreibt zudem ein eigenes Wahlkreisbüro in Leipzig, gelegen im Zentrum-Süd, Emilienstraße 15. Das ist zugleich Adresse der Geschäftsstelle der Leipziger AfD. Ein Mitglied des Kreisvorstandes, der sich dort trifft, ist Holger Hentschel – Neumann stellte ihn als Büroleiter an. Seit kurzem hat Hentschel einen neuen Job, er ist Landtagsabgeordneter geworden, mithilfe eines vorderen Listenplatzes.

Eine der sogenannten Vertrauensleute bei der Aufstellung der Landesliste, bei der Hentschel gut wegkam, war Christoph Neumann gewesen, was künftig nochmal ein Thema werden könnte. Denn wegen schwerer Fehler bei der Aufstellung der Liste wurde sie gekappt, nicht alle vorgesehenen Kandidat*innen der Partei durften letztlich antreten. Zu dem Thema hat die AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag inzwischen einen Untersuchungsausschuss einsetzen lassen, man fühlt sich benachteiligt. Zu den Vorgängen rund um die verpatzte Listenaufstellung hat sich Neumann bislang nicht öffentlich geäußert.

Kaum Erfahrung in der Kommunalpolitik

Dafür gelang inzwischen, was ihm lange verwehrt blieb, der Einzug in den Leipziger Stadtrat, ein halbes Jahrzehnt, nachdem er es zum ersten Mal versucht hatte. Im Mai vergangenen Jahres ergatterte er in seinem Wahlkreis satte 18,3 Prozent. Seitdem erst sammelt er kommunalpolitische Erfahrung. Darauf stützt er sich, wenn er annimmt, zum Oberbürgermeister zu taugen.

Wer auf seiner Website nachschlägt, erfährt zwar, dass er „seit 2015“ im Kinder- und Familienbeirat des Stadtrates sitzt. Aber das ist kein Gremium, das entscheidet, sondern eines, das berät, und Neumann hatte dort kein Wahlamt. Seine Mitgliedschaft im Beirat endete im Oktober 2019. Mit Kinder- und Familienpolitik hat er die ganze Zeit über nicht von sich reden gemacht. Die Akzente, die er setzt, sind viel kleiner und eitler: Seit einer Weile schreibt er bei seinem Vornamen die ersten beiden Buchstaben groß. Er heißt jetzt „CHristoph“. Sein Allerweltsname wird damit etwas origineller.

Das kann man von der Agenda nicht sagen, mit der er für den Fall wirbt, dass er Oberbürgermeister werden sollte. Er möchte „Vermüllungen im öffentlichen Raum und Graffiti-Schmierereien“ beseitigen sowie kleine und mittelständische Unternehmen stärken. Weiter ins Detail geht er nicht. „Neu statt jung“ heißt einer seiner Slogans, ein Wortspiel mit dem Namen des Amtsinhabers. Ein anderer Spruch lautet: „Leipzigs neuer Mann“. Was genau will er neu machen? Auf seiner Website steht zwar, dass er den öffentlichen Personennahverkehr irgendwie verbessern möchte. Aber das vieldiskutierte Modell eines 365-Euro-Tickets lehnt er ab. Und zwar, so zitierte ihn die Leipziger Volkszeitung, weil „vor allem diejenigen davon profitieren, die keine Steuern zahlen“.

Bei der kommenden Wahl wird der Spitzenverdiener Neumann aller Voraussicht nach chancenlos sein. Der erste Wahlgang findet am 2. Februar statt, bei gerade einmal zehn Prozent sieht ihn eine aktuelle Umfrage – knapp 15 Prozent hatte die AfD zur letzten Stadtratswahl geschafft. Etwa ein Viertel derer, die sich derzeit als AfD-Wähler*innen bezeichnen, will das Kreuz nicht beim eigenen Kandidaten machen. In der Altersgruppe unter 30 Jahren erfährt Neumann noch weniger Zuspruch. Er liegt nahe Null.