Plenarsaal │ Bei der letzten Landtags-Doppelsitzung in diesem Jahr wollte die AfD noch einmal mit der Regierung abrechnen, sie forderte das Ende des Lockdowns und den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Die Rechtsaußen-Fraktion hatte auch eigene Vorschläge zum Umgang mit der Pandemie dabei – und fiel dabei auf „Fake News“ herein, ohne es zu merken.
Beitrag vom 16.12.2020, 16:20 Uhr │
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Kretschmer wird „verbrannte Erde“ vorgeworfen
Die AfD zieht das Tempo im Landtag an: Bereits in den ersten beiden Stunden der Plenarsitzung, die am Mittwochvormittag in Dresden begonnen hat, forderte die Fraktion drei Mal den Rücktritt des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Er hatte die Tagesordnung mit einem Bericht über die aktuelle Lage eröffnet und den Anfang der Woche in Sachsen begonnenen harten Lockdown verteidigt. Man befinde sich in einer „extrem angespannten Situation“ und sei an einen Punkt gelangt, „an dem Appelle nicht mehr reichen“. Die Gewährleistung der medizinischen Versorgung im Freistaat sei „nicht verhandelbar“, Lockerungen aktuell „unmöglich“ – und weitergehende Einschränkungen nicht auszuschließen, falls die Regelungen nicht greifen.
Mit der AfD ging der Regierungschef vorneweg hart ins Gericht, warf ihr Unwillen vor, „Verantwortung zu tragen in dieser extremen Ausnahmesituation“. Stattdessen würde man dort „über Corona zu witzeln“, laut Kretschmer in „völliger Verkennung“ der Gefahren. Das trage längst „sektenartige Züge“. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Jörg Urban, erster Redner in der anschließenden Debatte, ließ das nicht auf sich sitzen. Die schwierige Situation räumte er ein, Sachsen sei „Spitzenreiter bei Neuinfektionen“. Doch daran trage nicht die Pandemie, sondern allein die Regierung die Schuld. „Viele der Toten könnten noch leben“, sagte Urban, wenn anders gehandelt worden wäre. Damit meinte er keine zügigere oder stärkere Eindämmung. Im Gegenteil: „Die Wissenschaft sagt, dass der Lockdown keine geeignete Maßnahme ist.“ Bloß Alten- und Pflegeeinrichtungen hätten besser geschützt werden müssen. „Deshalb fordere ich Sie auf, treten Sie als Ministerpräsident zurück!“
Ähnlich äußerte sich kurz darauf Rolf Weigand. Der Ministerpräsident habe einen „Kübel der Gülle über den Oppositionsführer ausgekippt“, beschwerte sich der AfD-Abgeordnete, und nun raube Kretschmer den Menschen in Sachsen sogar das Weihnachtsfest. „Treten Sie zurück!“, rief er in den Saal. Weigands Fraktionskollege Thomas Prantl forderte eine „ergebnisoffene Diskussion“ ein, die „zur besten Sendezeit im Mitteldeutschen Rundfunk“ laufen könnte, zum Beispiel „Drosten versus Bhakdi“ oder „Kretschmer gegen Schiffmann“. Seiner Auffassung nach richte die Regierung „mehr Schaden an, als es das Virus allein vermocht hätte“. Die Eindämmungspolitik hinterlasse „verbrannte Erde“, sagte er und spielte damit auf eine Kriegstaktik an – allgemein bekannt durch Hitlers sogenannten Nerobefehl. Prantls Schlussfolgerung, nicht mehr überraschend: „Erlösen Sie Sachsen, treten Sie zurück!“
AfD verliert den Überblick
Wenig erbaut ob solcher Parolen waren die anderen Fraktionen. Der CDU-Sozialpolitiker Alexander Dierks sagte, die Ausführungen der AfD seien „die ekelerregendste Form der Verantwortungslosigkeit, die ich jemals in diesem Haus erlebt habe“. Susanne Schaper von der Linksfraktion kritisierte ihrerseits den Ministerpräsidenten, der noch vor wenigen Wochen „auf die Bremse getreten“ und „Coronaleugnern die Aufwartung gemacht“ habe. Die jetzt ergriffenen Maßnahmen seien aber unumgänglich. Mit ihrem Verhalten trage dabei die AfD „einen gehörigen Anteil an den heutigen exorbitanten Infektionszahlen“. Urbans Fraktion bringe „nur sinnfreie, destruktive Vorschläge“ ein und solle daher „demütig ihren Rand halten“.
Zwischenzeitlich schien die AfD unter dem Eindruck der eigenen Rundumschläge den Überblick zu verlieren. Thomas Prantl etwa kritisierte in seiner Rede einen Antrag der Koalitionsfraktionen, wohl in der Annahme, dass darüber heute abgestimmt werden soll. Valentin Lippmann (Grüne) belehrte ihn am Saalmikrofon eines Besseren: Der Antrag wurde schon im November angenommen und damals beschlossen, dass die Landesregierung am Beginn dieser Plenarsitzung über die aktuelle Corona-Situation berichtet. Prantl reagierte patzig: „Ich hab‘ meine Meinung, Sie haben Ihre.“ Zu den Tatsachen wollte auch Sozialministerin Petra Köpping (SPD) zurückkehren. Sie zählte auf, welche AfD-Vorschläge längst umgesetzt werden, etwa der besondere Schutz vulnerabler Gruppen und obligatorische Tests in Pflegeeinrichtungen.
Doch das Virus wüte überall, sagte Köpping und erinnerte daran, dass erst vor wenigen Tagen infolge einer Corona-Infektion der AfD-Stadtrat Harald Hänisch aus Böhlen (Landkreis Leipzig) verstorben ist. „Pietätlos“ nannte es AfD-Mann Rolf Weigand, dass auf einen Verstorbenen hingewiesen wird. Bisher hat die Partei nichts Näheres zu diesem Fall verlauten lassen, das änderte sich auch heute nicht. Die anderen Fraktionen hatten ohnehin genug gehört. Mehrere Abgeordnete traten nicht mehr ans Pult, sondern gaben ihre Reden schriftlich zu Protokoll, um die Debatte nicht in die Länge zu ziehen.
Hereingefallen auf Boris Palmer
Wie bei allen Plenarsitzungen seit Frühjahr war auch diesmal im Vorfeld versucht worden, die Tagesordnung zu straffen. Die demokratischen Fraktionen stellten dafür eigene Themen zurück, Ziel: aus zwei Sitzungstagen einen machen, um Infektionsrisiken zu beschränken. Doch das klappte nicht, wie inzwischen üblich scheiterte eine Verständigung an der AfD. Sie hatte kurzfristig noch einen eigenen Antrag nachgeschoben („Strategiewechsel jetzt“). Das fünfseitige Papier war ein Neuaufguss der Positionen, die seit Monaten mit wechselndem Wortlaut und weitgehend gleichem Kern immer wieder eingebracht werden. Gefordert wird das Ende aller Einschränkungen des öffentlichen Lebens, stattdessen ein stärkerer Schutz von Risikogruppen. Doch bei der Frage, welche „milderen Mittel“ als der aktuelle Lockdown die extremen Fallzahlen im Freistaat drücken sollen, bleibt man nach wie vor unkonkret.
Mehr Schnelltests soll es geben, an deren Aussagekraft AfD-Abgeordnete in sozialen Netzwerken jedoch zweifeln, und „massenweise Einkaufstouristen aus Tschechien“ mögen an der Grenze gestoppt werden. Schon zu Beginn der Pandemie hatte die AfD den Eindruck erweckt, das Virus werde eingeschleppt, um damit einen Bogen zum eigenen Kernthema zu schlagen: Grenzen dicht. Neu war diesmal, dass die AfD den sogenannten Tübinger Weg für sich entdeckt hat. In der baden-württembergischen Stadt sei es „gelungen, dass es unter den über 75-Jährigen fast keine Neuinfektionen gibt und dadurch auch die örtlichen Kliniken wenige COVID-19-Patienten haben“, heißt es im heute behandelten Antrag. Jörg Urban wiederholte diesen Passus noch einmal fast wörtlich im Plenum. Seine Fraktion bezieht sich damit auf ein Interview, das Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) vor einer Woche dem Tagesspiegel gegeben hatte. Darin rühmte er sich, dass es gelungen sei, ein „Eindringen des Virus in die Alten- und Pflegeheime in unserer Stadt bisher vollständig zu verhindern“, bei Menschen ab 75 gebe es „überhaupt keine Fälle mehr“.
Doch so einfach ist das nicht. Zum einen: Palmer versteht seine Ansätze, etwa kostenlose Masken und subventionierte Taxifahrten für Senior*innen, überhaupt nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu anderen Einschränkungen, den harten Lockdown befürwortet er sogar. Zum anderen waren Palmers Erfolgsmeldungen nicht nur überraschend, sondern schlicht falsch. Auch in Tübinger Pflegeeinrichtungen gab und gibt es Corona-Ausbrüche, ebenso Todesfälle in gehoben Altersgruppen, nach relativen Zahlen sogar mehr als etwa in Berlin. „Ich entschuldige mich dafür, an dieser Stelle eine falsche Aussage gemacht zu haben“, erklärte Palmer schon kurz nach seinem Interview. Von diesem Dementi hat man bei der AfD nichts mitbekommen. Ihr Antrag wurde abgelehnt.