Geisterstunde mit Vaatz

Kommentar │ Der Sächsische Landtag feierte den Tag der Deutschen Einheit vor allem mit der CDU, der AfD und einem Redner, der bei den einen ist und bei den anderen sofort anfangen könnte. Die Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken blieben lieber fern und behielten damit Recht. Ein Lob des Boykotts von idas-Redakteur Martin Leonow.


Beitrag vom 04.10.2020, 20:45 Uhr │ Im Bild: Arnold Vaatz bei seiner Rede zum 3. Oktober.


Warum ausgerechnet er?

Die Feierstunde zum Tag der Deutschen Einheit, die am vergangenen Samstag im Landtag begangen wurde, konnte leicht mit einer Geisterstunde verwechseln, wer nur genau hinsah. Eine anderthalbe Stunde lang sah der Plenarsaal aus, wie die AfD ihn sich erträumt: Anderthalb Dutzend ihrer Abgeordneten saßen in den gewohnten Rängen. Aber dort, wo sonst die Regierungsmitglieder zu finden sind, hatten der Fraktionsvorsitzende Jörg Urban und sein Kollege André Wendt Platz genommen, der zugleich Vizepräsident des Hauses ist. Sie saßen direkt hinter dem Ministerpräsidenten Michael Kretschmer. Im Bereich von SPD und Linken hatten es sich fünf AfD-Bundestagsabgeordnete gemütlich gemacht, hinter Thomas de Maizière, der im Freistaat einst Chef der Staatskanzlei, Finanz-, Justiz- und Innenminister war.

Wer alle abzieht, die unter den rund 160 Gästen ehrenhalber teilnehmen durften, sah ein Parlament vor sich, das leibhaftig nur aus CDU und AfD besteht.

Neben der Linksfraktion hatten im Vorfeld auch Grüne und SPD, die beide mitregieren, ihre Teilnahme an der Veranstaltung abgesagt, weil Landtagspräsident Matthias Rößler einen umstrittenen Parteifreund als Festredner eingeladen hatte. Das ist der CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz, der einer der „führenden sächsischen Protagonisten der Friedlichen Revolution 1989“ gewesen sei, ein „Vorkämpfer“ – auch wenn ihn vor dem Oktober jenes Jahres niemand kannte, auch wenn sich die Dresdner „Gruppe der 20“, der er sich damals anschloss, ausdrücklich nicht als Opposition verstand, sondern für „Veränderungen auf der Basis der sozialistischen Gesellschaft“ warb. Daneben dürfte sich Vaatz‘ heutige Bekanntheit auch aus seinen national gesonnenen Kolumnen in der SuperIllu speisen, der auflagenstärksten Zeitschrift in den Neuen Bundesländern. Im politischen Leben kennt man ihn außerdem als einen schrillen Unions-Rechtsaußen, der die Bundesrepublik immer wieder zu einer neuen DDR tendieren sieht. So warf er, um nur das jüngste Beispiel zu nennen, der Berliner Polizei vor, bei ihr würde die Zahl von Beteiligten an Corona-Demonstrationen „wie 1989 absichtlich runtergerechnet“.

Die drei Fraktionen, die sich das nicht antun wollten, hatten also vor einer berechtigten Frage gestanden: Warum ausgerechnet er? Eine zufriedenstellende Antwort gab es nicht.

Umso größer war die Zufriedenheit bei der AfD. Am Anfang des wochenlangen Streits um den Redner hatte man noch angenommen, dass Vaatz letztlich nicht erscheinen würde, vielleicht unter einem Vorwand absagen muss oder ausgeladen wird, weil die sächsische CDU kuscht. Man hätte das zum Beweis der Behauptung genutzt, dass der Freistaat bereits zu einer neuen DDR entstellt ist. Damit unzufrieden, dass er doch erschien, war man aber auch nicht. Jörg Urban würdigte, dass Vaatz‘ Positionen denen der AfD nicht allzu ferne seien. Als Urbans Partei 2014 erstmals in den Landtag einzog, war Vaatz unter den Ersten und den Lautesten, die sie vor Kritik beschirmten und bereitwillig ihre Erzählung übernahmen, doch lediglich zu vertreten, was die angeblich nach links gerückte Union nicht mehr vertreten wolle. Er warb damals für „Gelassenheit“, denn die AfD sei „weder die NPD noch der Ku-Klux-Klan noch der Front National“. Anfang 2015 verhalf er einer Pegida-Delegation zu einem Spitzengespräch in Berlin. Als im Jahr darauf ein Pegida-Redner einen Brandanschlag auf eine Dresdner Moschee verübte und dabei versuchte, mehrere Menschen zu töten, sah Vaatz die Schuld bei einer „gewalttätigen westdeutschen Linken“, die alle Hemmschwellen aus dem Weg geräumt habe.

Gut hat’s, wer nicht dabei war

Wer Feierstunden solcher Art kennt, wird das, was am Samstag im Landtag zu sehen und zu hören war, nicht überbewerten. Nutznießer*innen bestimmter Entwicklungen versichern einander eben gern, noch immer auf der richtigen Seite zu stehen und ganz zurecht die Nutznießer*innen, in diesem Fall die Regierenden zu sein. So sprach Matthias Rößler in einer bemerkenswert ahistorischen Rede vom „Wunderjahr 1990“, in dem es gelungen sei, „zur historischen Normalität sächsischer Staatlichkeit“ zurückzukehren. Das „historisch Gewachsene“ sei der Schlüssel für Wohlstand und Stabilität, nicht aber „neue Blütenträume vom großen Umbau unserer Gesellschaft“. Die Friedliche Revolution, sie wäre damit ein seltener Fall einer Revolution ohne revolutionäres Erbe, ein Umsturz, der nur den Stillstand lehrt. Vaatz, der demutsscheue Theologe, sah die sprichwörtlichen blühenden Landschaften „weit über das vorstellbare Maß hinaus Wirklichkeit geworden“, also abgeschlossen.

Damit ist der Zeitpunkt gekommen, den eigenen historischen Ort festzulegen: „Nichts in der bisherigen Europäischen Geschichte konnte sich mit dieser Friedlichen Revolution messen, egal wie lange Sie in der Zeit zurückgehen.“ Für diese unanständige Selbstüberhöhung erhielt Vaatz ungeteilten Applaus.

In seiner Rede rekapitulierte er ansonsten ausführlich die Ereigniskette vom Wendeherbst 1989 bis zur Wiedervereinigung, bis zu dem Moment, als der Freistaat Sachsen wiedergegründet wurde. Nimmt man Vaatz beim Wort, dann hat sich alles Wesentliche erstens in Dresden und zweitens mit ihm abgespielt. Erst in den letzten Minuten seines Vortrags kehrte er in die Gegenwart zurück. Es müsse doch möglich sein, mahnte er, politische Entwicklungen in Frage zu stellen, die Energiepolitik der Bundesregierung zum Beispiel. Und es müsse auch mögliche sein, eine „saubere Trennung von Asylpolitik einerseits und Einwanderungspolitik andererseits“ zu fordern, „ohne an den Pranger gestellt zu werden“. Er habe da seine Zweifel, „dass die Freiheit von 1990 heute noch existiert“; dass die Meinungsfreiheit, die er gerade uneingeschränkt wahrnimmt, uneingeschränkt gilt; dass die Medien unvoreingenommen seien, die seine Rede gerade live übertragen. Heute würden Menschen schon „ihren Job verlieren, weil man mit der falschen Person an einem Tisch gesehen worden ist“, behauptete er ins Blaue hinein. Sein einziges Beispiel dafür, dass das Land unter „öffentlichem Konformitätsdruck“ stehe, trägt den Namen Dieter Nuhr.

Und wenn er Hass und Hetze verurteilt, dann meint er damit eine „wenig beachtete Form von Alltagsrassismus, dass man heute ohne die geringsten Konsequenzen Menschen bis ins Mark kränken darf, wenn diese Menschen beispielsweise alte weiße Männer sind.“ So weit möge die Freiheit, die Vaatz meint, dann doch nicht gehen.

Es war Michael Kretschmer zu verdanken, dass nicht alle Sätze, die am Samstag fielen, nach AfD-Parteitagsreden, SuperIllu-Kolumnen oder anderem selbstgerechten Unfug klangen. Im Landtag sehe man seit einigen Jahren, „dass es eine politische Gruppierung gibt, die in ganz besonderer Weise spaltet, die andere herabwürdigt, die die Eskalation vorantreibt“, sagte der Ministerpräsident. Dann blickte er in Richtung der AfD-Ränge: „Warum stehen Sie nicht auf, begehren auf, wenn wirklich bekennende Rechtsextremisten in der eigenen Partei – Höcke, Kalbitz, andere – ihr Unwesen treiben?“ Es müsse doch Leute geben, denen das nicht egal ist. Doch niemand steht auf. Jörg Urban schüttelt den Kopf, René Hein lehnt sich zurück und dreht Däumchen. Doreen Schwietzer kneift die Augen zusammen, als wüsste sie nicht worum es geht, und Roberto Kuhnert hebt dem Blick vom Programmheft und fächert sich Luft zu, als wäre sie knapp.

Gut hat’s, wer nicht dabei war, wer Besseres vorhatte.