Die vermeintliche Flügel-Auflösung: Ein Schritt vor, zwei zurück

Der verfassungsfeindliche Flügel soll sich auflösen, das verlangt der AfD-Bundesvorstand. Das Aus der Gruppe wurde nun tatsächlich verkündet, aber gleich darauf dementiert. Zugleich kündigt Björn Höcke in einem Interview an, er werde seine Strömung „historisieren“, ihren Kurs aber „weiterführen“. Was soll das bedeuten?

Nur einen Tag nach dem Beschluss des Bundesvorstandes der AfD, den völkisch-nationalistischen Flügel aufzulösen, hat die verfassungsfeindliche Strömung Tatsachen geschaffen und ihr Aus verkündet – um sogleich zurückzurudern.

„Medienmeldungen sind unzutreffend“

Die Mitteilung war schlecht redigiert, aber eindeutig. „Schweren Herzen haben wir heute entschieden, dass sich die Wertegemeinschaft des Flügels, gemäß dem Beschluss des Bundesvorstandes, auflösen wird.“ Das war am frühen Abend in einer kurzen Stellungnahme auf der Facebook-Seite der Gruppe zu lesen. Damit solle dem Wohl der Partei gedient werden. Der AfD wolle man weiter angehören und „die Werte die mit dem Flügel verbunden sind, bleiben erhalten“, hieß es abschließend. Es las sich wie ein Einlenken auf den Druck der Parteispitze. Aber auch wie ein unmissverständlicher Fingerzeig, dass man von inhaltlichen Positionen nicht abrücken werde.

Doch nach kurzer Zeit wurde das komplette Statement gelöscht und durch eine neue Erklärung ersetzt, in der die Auflösung dementiert wird: „Die kursierenden Medienmeldungen über einen angeblich heute gefassten ‚Beschluss zur Auflösung des Flügels‘ sind unzutreffend“, heißt es nun. Derzeit sei man „intensiv mit der Bewertung und möglichen fristgemäßen Umsetzung des Bundesvorstandsbeschlusses“ befasst, wonach der Flügel aufgelöst werden soll. Man mahne nun „alle Mitstreiter zur Gelassenheit“.

Zwischenzeitlich hatte der sächsische AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier, der eine führende Rolle im Flügel spielt, gegenüber Zeit Online bestätigt, dass sich der Flügel doch auflöst. Was gilt und was nicht? Das ist aktuell unklar. Alle Online-Auftritte der Strömung sind nach wie vor abrufbar.

Heutiges Flügel-Treffen wurde abgesagt

Das hastige und widersprüchliche Vorgehen überrascht. Der Bundesvorstand hat dem Flügel eine Frist bis Ende April eingeräumt, um einen geordneten und gesichtswahrenden Rückzug zu ermöglichen. Der Beschluss der Parteispitze war in seiner genauen Formulierung umkämpft, wurde dann aber fast einmütig gefällt. Im Hintergrund stehen Befürchtungen, wonach die Flügel-Aktivitäten in absehbarer Zeit dazu führen könnten, dass die gesamte Partei durch den Verfassungsschutz beobachtet und als „rechtsextrem“ eingestuft wird – beim Flügel und dessen Anführern Björn Höcke und Andreas Kalbitz ist das bereits der Fall.

Hinzu kommt wachsender Unmut in mehreren westdeutschen Verbänden über das Auftreten Höckes und Kalbitz‘ braunes Vorleben. Die Vorwürfe waren alle in der Welt, da warnte der Flügel noch am Donnerstag vor einem „Spaltungsversuch“ und erklärte, dass man künftig „noch enger zusammenstehen“ werde. Die Botschaft: Es geht weiter. Über dieses weitere Vorgehen hätte heute ein Flügel-Treffen beraten sollen, das für den Abend angesetzt war. Eingeladen waren die sogenannten Obleute der Gruppe, Jens Maier beispielsweise, die für die Aktivitäten der Strömung in den einzelnen Bundesländern zuständig sind.

Die Versammlung wurde jedoch kurzfristig abgesagt mit der Begründung, dass man aufgrund der Corona-Pandemie etliche Absagen erhalten habe. Aus Angst vor einer Überwachung, so deutete es Kalbitz an, komme eine Telefonkonferenz nicht infrage, sondern ein späteres persönliches Treffen sei zwingend erforderlich. Einen Ersatztermin gibt es nicht. In der Sitzung des Bundesvorstands, dem er selbst angehört, hatte er als Einziger gegen den Auflösungs-Beschluss gestimmt – jedoch zugesichert, ihm zu folgen. Nun aber ist seitens den Flügels nur noch von einer „möglichen“ Umsetzung die Rede.

Höcke will den Flügel „historisieren“

Egal, wie man die widersprüchlichen Statements bewertet: Dass sich der Flügel äußert, ohne dass es zu der geplanten Beratung gekommen ist, unterstreicht den Führungsanspruch Höckes in seinem Spektrum. Denn fast zeitgleich mit der dann zurückgezogenen Auflösungserklärung erschien ein Interview mit ihm, das der neurechte Publizist Götz Kubitschek geführt hat und das auf der Website seiner Zeitschrift Sezession erschienen ist. Kubitschek gilt als ein ideologischer Mentor Höckes, er ist überdies ein mutmaßlicher Spender des Flügels und war auch Gastgeber jenes Treffens Anfang des Monats gewesen, bei dem Höcke gefordert hatte, innerparteiliche Gegner*innen müssten „ausgeschwitzt“ werden.

In dem Interview lässt sich Höcke mit harschen Worten zur Entscheidung des Bundesvorstandes ein, die ihn „peinlich berührt“ habe. Seiner Ansicht nach hätten „nervöse Teile“ der AfD im Sinne des Verfassungsschutzes gehandelt, der Vorstand habe sich „irrationalen Dynamiken“ hingegeben und den Flügel durch die Fristsetzung „genötigt“. Eher kryptisch äußert sich Höcke allerdings auf Fragen zum Zustand und zur Zukunft des Flügels. Im Interview spricht er – das ist auffällig – keineswegs von einer Auflösung, sondern von einer „Historisierung“ des Flügels, die sowieso geplant gewesen sei, ganz so, als sei die Entscheidung der Parteispitze eigentlich belanglos. Seine Strömung habe ihre Hauptaufgabe, „den Einbau der AfD ins Establishment zu verhindern“, im Wesentlichen erfüllt, sagt Höcke. Es ist eine Formulierung, die so ähnlich schon einmal genutzt wurde, als vor anderthalb Jahren die sogenannte Patriotische Plattform aufgelöst worden ist. Sie war, wie jetzt der Flügel, in den Fokus des Verfassungsschutzes geraten.

Nach Angaben Höckes brauche es nun einen neuen „Impuls, der über den Flügel hinausweist und die Einheit der Partei betont“. Kontrahent*innen, eingeschlossen Teile des Bundesvorstandes, würden da „nicht mithalten können“, sagt er und meldet damit einmal mehr seinen Machtanspruch an. Kritisch bemerkt er, dass der Flügel „nicht nur politikfähige, also geeignete Leute angezogen“ habe, es sei außerdem zu „Verfilzungen“ gekommen“. Wen und was er damit meint, bleibt ebenso offen wie die Bedeutung des Wortes „Impuls“. Zumindest möchte man auch künftig keine getrennten Wege gehen, sondern den einmal eingeschlagenen „politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen“. Am Ende des Interviews war zunächst ein Foto zu sehen, das Kalbitz und Höcke an der Seite von Kubitschek zeigt und das augenscheinlich aktuell ist. Womöglich gab es also doch ein Flügel-Treffen – ohne die Obleute einzubeziehen. Womöglich ist das aber auch nur ein Eindruck, der bewusst erweckt werden soll. Das Bild wurde inzwischen gelöscht.

Sächsische AfD kritisiert Thematisierung

Weitgehend unbemerkt hat der AfD-Bundesvorstand heute zu seinem Beschluss, der Flügel möge sich auflösen, einen „ergänzenden Hinweis“ gesellt: Durch die Entscheidung werde „niemand seine Parteimitgliedschaft oder sein Parteiamt“ verlieren, „Gliederung und Programm der AfD bleiben ebenfalls unverändert.“ Heißt: Erklärt die Gruppe ihr Ende, lässt man die Sache auf sich beruhen. Im Vorfeld hatte es Forderungen gegeben, Ordnungsmaßnahmen gegen Höcke zu ergreifen und Kalbitz aus der Partei auszuschließen. Die Klarstellung mag es den beiden Protagonisten erleichtern, dem Beschluss zu folgen. Im Zweifel – so versteht es Höcke in dem Interview – geht es wohl nur um den Namen der Strömung.

In den Kommentarspalten verschiedener AfD-Profile gibt es zu den aktuellen Entwicklungen zahlreiche Reaktionen. Doch offizielle Stellungnahmen von weiteren namhaften Flügel-Mitgliedern oder den stark von dieser Strömung beeinflusten Verbänden blieben bislang aus. Eine Ausnahme ist die sächsische AfD. Deren Landesvorstand tagte am Freitag fast zeitgleich mit dem Bundesvorstand und veröffentlichte im Anschluss eine kurze Stellungnahme: „Die derzeitige Debatte über innerparteiliche Strömungen findet zur Unzeit statt. Die Bürger befinden sich in großer Sorge um ihre Gesundheit oder die ihrer engsten Angehörigen. Für unseren Landesverband galt, gilt und wird weiterhin gelten, dass Verfassungsfeinde und Gegner der freiheitlich demokratischen Grundordnung in der AfD keinen Platz haben und ausgeschlossen werden. Unabhängig davon, welcher parteipolitischen Strömung sie angehören.“

Der Flügel wird in dem Statement nicht erwähnt. Das und die generelle Kritik an der Thematisierung „innerparteilicher Strömungen“ ist nachvollziehbar: Der Landesvorsitzende Jörg Urban und sein Generalsekretär Jan Zwerg gehören dieser Strömung selbst an, der Landesverband wird überwiegend von Flügel-Leuten kontrolliert und bringt ihn dadurch insgesamt in die Nähe der Verfassungsfeindlichkeit. Dass man gegen solche Bestrebungen selbst vorgehe, ist jedoch eine Mär. Erst kürzlich wurde mit Daniel Zabel ein rechtsmotivierter Straftäter in den Landesvorstand gewählt.