Schont Sachsen die AfD?

Das sächsische Innenministerium hat Medienrecherchen zufolge verlangt, dass beim Landesamt für Verfassungsschutz zahlreiche Unterlagen über die AfD vernichtet werden. Dafür soll sich der heute ins Amt gekommene neue Nachrichtendienstleiter Dirk-Martin Christian persönlich eingesetzt haben. Zuletzt waren mehrere Abgeordnete ins Visier geraten – darunter auch Parteichef Tino Chrupalla.

„Modernen Rechtsextremismus“ nicht im Blick

Das sächsische Innenministerium will beim Umgang mit der AfD offenbar einen Sonderweg einschlagen und die Beobachtung verfassungsfeindlicher Teile der Partei als erstes und einziges Bundesland womöglich weitgehend einstellen. Das berichtet die Sächsische Zeitung vor dem Hintergrund des aktuellen Wechsels an der Spitze des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV). Neuer Präsident ist seit heute Dirk-Martin Christian, der Gordian Meyer-Plath ablöst.

Dem Bericht zufolge soll Christian, der zuletzt im Innenministerium für die Fachaufsicht über das LfV zuständig war, in den vergangenen Monaten die Vernichtung umfangreicher Unterlagen zur AfD verlangt haben, die im Zuge der Bearbeitung der Partei als sogenannter Prüffall, der Jungen Alternative als Verdachtfall und des völkisch-nationalistischen Flügels als Beobachtungsobjekt angefallen waren. Die Zeitung beruft sich auf interne Unterlagen.

Ihnen zufolgen soll der geschasste Geheimdienstler Meyer-Plath versucht haben, sich zu widersetzen, aus Sorge vor einem „politischen Schaden für das Innenministerium“ und einem Verlust der Arbeitsfähigkeit des Amtes „in einem der dynamischsten Felder des modernen Rechtsextremismus, der auch als Nährboden für gewaltbereite Rechtsextremisten von Bedeutung ist“. Folge man den Vorgaben des Ministeriums, würde „der Eindruck entstehen, dass das LfV Sachsen und damit auch das Sächsische Staatsministerium des Innern den Kampf des Freistaates gegen Rechtsextremismus – konkret die Auseinandersetzung mit der AfD – nicht, beziehungsweise nur sehr nachlässig wahrnimmt.“

Verflechtung von Partei und Fraktionen

In dem dahinterliegenden Streit geht es in erster Linie nicht um politische, sondern um juristische Fragen. Die beim LfV vorliegenden Unterlagen beziehen sich in vielen Fällen auf AfD-Politiker*innen, die Abgeordnete des Landtags, des Bundestags oder des Europaparlaments sind. Parlamentarische Tätigkeiten darf der Nachrichtendienst jedoch nicht ausforschen. Daraus ergibt sich ein Dilemma: In Sachsen sind Landtagsfraktion und Landespartei besonders eng miteinander verzahnt, die meisten Funktionär*innen haben zugleich ein Mandat. Unter ihnen sind auch jene Personen, für die sich der Verfassungsschutz besonders interessiert. Der neue Verfassungsschutzpräsident Christian soll demnach ein rabiates Vorgehen gefordert haben – die Löschung aller personenbezogenen Daten von Abgeordneten.

Demnach müsste das LfV einen Großteil der Unterlagen zu extrem rechten Strukturen in der AfD schwärzen oder ganz loswerden. Mehr als 1.000 Dokumente sollen betroffen sein. Darunter sind auch Unterlagen, die der Öffentlichkeit längst zugänglich sind, etwa das Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von Anfang 2019, auf dessen Grundlage die AfD zum Prüffall erklärt worden ist. Darin wurden sieben sächsische Abgeordnete namentlich aufgeführt. Inzwischen, anderhalb Jahre später, geht es um insgesamt acht sächsische AfD-Abgeordnete, die ins Visier des Verfassungsschutzes geraten und geblieben sind.

Dem Vernehmen nach soll es sich um die Landtagsmitglieder Roland Ulbrich und Norbert Mayer handeln. Sie hatten die „Patriotische Plattform“ aufgebaut, die im Höcke-Flügel aufgegangen ist. Hinzu kommt mit Jörg Urban und Jan-Oliver Zwerg die Spitze der Landtagsfraktion, beide führen zudem die Landespartei an und haben sich zuletzt mehrfach mit dem Flügel und namentlich auch mit dem Neonazi Andreas Kalbitz solidarisiert. Aus dem EU-Parlament ist Maximilian Krah betroffen, der auch durch seine Nähe zur Hassorganisation „Ein Prozent“ aufgefallen ist. Im Bundestag sitzt schließlich Jens Maier, der offizieller „Obmann“ des Flügels war. Sein Kollege Siegbert Droese beschäftigt mit Daniel Fiß einen Mann aus der Neonaziszene, der zeitweise führendes Mitglied der Identitären war. Am meisten aufhorchen lässt jedoch, dass sich der Verfassungsschutz auch mit Tino Chrupalla befasst. Der aus Sachsen stammende Bundestagsabgeordnete ist einer von zwei Parteivorsitzenden der AfD. In diese Position war er mit Flügel-Hilfe gelangt.

LfV auch bisher wenig engagiert

Spannungen um die AfD-Beobachtung in Sachsen waren schon länger bekannt, doch das Ausmaß ist neu. In der Vergangenheit störten sich das LfV und auch das Innenministerium nicht daran, dass mit Hendrik Seidel ein AfD-Mann, der zeitweise Funktionär im Kreisverband Mittelsachsen war, in der Behörde arbeitet und sich damit bei einer Parteiveranstaltung gebrüstet hat. Er musste erst gehen, nachdem er sich vor laufender Kamera mit den Identitären solidarisierte.

Das sächsische Amt galt auch innerhalb des Verfassungsschutz-Verbundes als wenig kooperativ, als das BfV 2018 – damals noch angeführt von Hans-Georg Maaßen – erstmals Material über die AfD zusammenstellen ließ. Aus Sachsen wurden erst spät Dokumente zugeliefert, die zum Teil aus kopierten Zeitungsmeldungen bestanden haben sollen. In anderen Ämtern wunderte man sich, dass im Freistaat ausgerechnet die Patriotische Plattform nicht schon in den Blick geraten war.

Absehbar ist außerdem, dass im kommenden sächsischen Verfassungsschutzbericht die AfD keine Erwähnung finden wird. Formaler Grund ist die Auffassung, dass das einschlägige sächsische Verfassungsschutzgesetz keine Grundlage biete, über sogenannte Verdachtsfälle zu berichten. Das war allerdings früher, so geschehen im Fall der Identitären, noch kein Problem gewesen. Acht Landesämter haben in diesem Jahr bereits Berichte vorgelegt, sechs davon informieren teils ausführlich über Flügel, Junge Alternative und das von ihnen gespeiste „rechtsextremistische Personenpotential“ in der AfD. Es beläuft sich in Sachsen mutmaßlich auf eine höhere dreistellige Zahl – und wird trotzdem ausgeblendet werden.

Innenministerium kündigt Erklärung an

Zuletzt hatten das LfV Sachsen und das hiesige Innenministerium jegliche Auskünfte verweigert, ob ähnlich wie in Thüringen und Brandenburg beabsichtigt wird, den kompletten AfD-Landesverband zum Verdachtsfall hochzustufen. Dabei gilt die Sachsen-AfD unter Jörg Urban in ähnlicher Weise als „verflügelt“ wie die Nachbarverbände von Höcke und Kalbitz. Näheres könnte sich am Donnerstagnachnittag ergeben. Dann lädt das Innenministerium zu einem Pressegespräch ein, um Dirk-Christian Martin offiziell vorzustellen und Stellung zu nehmen zum Bericht der Sächsischen Zeitung. Das sorgt schon jetzt für Unmut, denn der Termin überschneidet sich mit einer Sitzung des zuständigen Landtags-Innenausschusses.

Die sächsische AfD und ihre Landtagsfraktion haben sich zum Thema noch nicht geäußert. Gestern allerdings kritisierte Jörg Urban in einer Pressemitteilung den anstehenden Wechsel an der LfV-Spitze: Die Personalentscheidung sei „politisch motiviert“, es sei dadurch „endgültig vorbei mit der Unabhängigkeit dieser Behörde“. Die AfD unterstellt bereits seit mehreren Wochen, dass Meyer-Plath abgelöst werden soll, um den Weg frei zu machen für eine verschärfte Beobachtung der Partei. Doch womöglich trifft das Gegenteil zu.

Verwunderung dürfte auch in der Landesregierung entstehen. Im Koalitionsvertrag von CDU, SPD und Grünen heißt es, dass der Verfassungsschutz in Sachsen „stärker als bisher über Akteure, Strukturen und Aktivitäten der extremen Rechten“ informieren soll. Dass dafür Meyer-Plath weichen muss, zeichnete sich bereits bei den Koalitionsverhandlungen im vergangenen Jahr ab. Dirk-Martin Christian war als Nachfolger seit einigen Wochem im Spiel, nachdem andere Kandidat*innen abgewunken hatten. Die offizielle Entscheidung für die Neubesetzung fiel erst gestern im Koalitionsausschuss.