Wo der Flügel mächtig ist

Die AfD will am Sonnabend in Sebnitz aufmarschieren, gemeinsam mit der Landesspitze der Partei und dem Neonazi Andreas Kalbitz aus Brandenburg, der seine Mitgliedschaft verloren hat. Aber das ist keine Hürde: In Sachsen hat der verfassungsfeindliche Flügel die Hausmacht – und hunderte Anhänger*innen, wie idas-Recherchen zeigen.

Versammlung ohne Motto

Die AfD ruft zu einer Demonstration auf, die am kommenden Sonnabend ab 16 Uhr auf dem Marktplatz in Sebnitz (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) stattfinden soll. Bereits seit einigen Tagen wird die Veranstaltung im Internet beworben, bislang ohne Angabe eines Themas oder Mottos, die Rede ist lediglich von einer „Demo der AfD“. Ausdrücklich hingewiesen wird jedoch auf einen bekannten Redner, den Neonazi Andreas Kalbitz. Desses Mitgliedschaft in der Partei ist vor knapp einem Monat annulliert worden.

Neben Kalbitz sollen auch der der sächsische Landesvorsitzende Jörg Urban, Generalsekretär Jan-Oliver Zwerg, der Bundestagsabgeordnete Jens Maier sowie das Kreistagsmitglied Lothar Hoffmann sprechen. Hoffmann, der noch vor wenigen Jahren in einer NPD-Tarninitiative aktiv war, leitet den örtlichen AfD-Kreisverband, der die Versammlung organisiert. Er gilt wie alle anderen angekündigten Politiker als Anhänger des verfassungsfeindlichen Flügels. Kalbitz ist einer der Anführer dieser völkisch-nationalistischen Strömung, Maier als ein durch Björn Höcke ernannter „Obmann“ der offizielle Vertreter in Sachsen.

Erst am vergangenen Sonntag war Maier neben weiteren AfD-Mitgliedern bei einer Versammlung von Motorradfahrer*innen zu sehen, die gegen mögliche Fahrverbote an Sonn- und Feiertagen protestierten. Der Konvoi fuhr von Nossen (Landkreis Meißen) nach Dresden, wo am Nachmittag auf dem Neumarkt die Abschlusskundgebung stattfand. Dort wurde im Beisein Maiers das „Deutschlandlied“ abgespielt, inklusive der ersten Strophe („Deutschland, Deutschland über alles…“). Diese war zuletzt im Nationalsozialismus offizieller Teil der Nationalhymne.

Hunderte Flügel-Anhänger*innen in Sachsen

Mit der kommenden Demonstration in Sebnitz erneuert die sächsische AfD ihre Positionierung als ein eindeutig Flügel-treuer Verband. Die Landesspitze um Jörg Urban hatte sich in jüngster Zeit wiederholt mit Kalbitz solidarisiert und für die Höcke-Bewegung ausgesprochen, die durch Verfassungsschutzbehörden als „rechtsextremistisch“ eingestuft wurde und sich auf Beschluss des Parteivorstands für aufgelöst erklären musste. An der Abwicklung bestehen Zweifel, die durch das geplante Schaulaufen in Sebnitz noch zusätzlich genährt werden.

Zuletzt war der Flügel in Sachsen die stärkste Teilströmung der Partei. Unklar ist, wie viele AfD-Mitglieder dazugehören. Mutmaßlich geht deren Zahl im Freistaat in die Hunderte. Das ist das Ergebnis einer idas-Langzeitrecherche zum extrem rechten Spektrum der Landespartei. Demnach können allein anhand öffentlich zugänglicher Quellen rund 350 Personen namentlich ermittelt werden, die beispielsweise mit der „Erfurter Resolution“ das Gründungsdokument der Strömung und ähnliche Erklärungen unterzeichnet haben oder die in der „Patriotischen Plattform“ aktiv waren, die sich zugunsten des Flügels aufgelöst hat.

Damit liegt erstmals eine belastbare Zahl vor, durch die sich die Flügel-Stärke in Sachsen abschätzen lässt. Es handelt sich um mehr als ein Achtel der insgesamt rund 2.600 sächsischen Parteimitglieder. Der Wert ist lediglich als eine Untergrenze anzusehen. Rechnet man weitere Personen hinzu, die in der Vergangenheit beispielsweise Flügel-Veranstaltungen besucht oder die Strömung anderweitig unterstützt haben, ohne sich dazu öffentlich zu bekennen, steigt die Zahl mutmaßlich auf deutlich über 500 und damit auf mehr als ein Fünftel aller Mitglieder an.

Besonders stark in Dresden

Der Flügel hat stets bestritten, über feste Strukturen und eigene Mitglieder zu verfügen. Dennoch wurden in der Vergangenheit sogar noch deutlich höhere Werte genannt: Jan-Oliver Zwerg beispielsweise gab Anfang 2018, als er erstmals zum Generalsekretär der sächsischen AfD gewählt wurde, an, dass 60 bis 70 Prozent der hiesigen Mitglieder der Strömung angehören würden. Im Folgejahr nannte Jens Maier ebenfalls 70 Prozent als eine Richtgröße. Es wäre eine Mehrheit, mit der auch ein Machtanspruch verbunden ist.

Aber der Flügel bedarf gar keiner nominellen Mehrheit, um die Landespartei zu dominieren. So existiert seit längerem keine konkurrierende Strömung mehr. Zudem befinden sich unter den namentlich bekannten Anhänger*innen auffällig viele Funktionär*innen des Landesverbandes und der Kreisverbände – sowie die meisten aller sächsischen Abgeordneten, die im Landtag und im Bundestag sitzen. Von den Ursprüngen als einer selbsterklärte Basisbewegung hat sich der Flügel damit weit entfernt. Er ist ein Karrierenetzwerk geworden, das Gesinnungsgenoss*innen Zugänge zu Ämtern und Mandaten erleichtert.

Bei den meisten der rund 350 eindeutig identifizierbaren Personen ist ein Wohnort bekannt, bei vielen auch der Kreisverband, dem sie angehören. Daher wird nun auch erkennbar, in welchen Regionen der Flügel tiefe Wurzeln geschlagen hat. Besonders stark ist er demnach im AfD-Kreisverband Dresden mit rund 50 Personen, darunter Jens Maier. Gleich danach folgen die Kreisverbände Görlitz, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Zwickau. Nur vereinzelte Flügel-Leute gibt es dagegen in Nordsachsen und im Vogtland.